Mauer, Jeans und Prager Frühling
Boden gerichtet, auf einer Linie balancieren. Allmählich begriff ich in meiner Aufregung, daß wir auf den Grad eventuellen Alkoholgenusses geprüft wurden. Ich hatte keine Probleme mit dieser Linie, aber von der Linie, die jene Genossen vertraten, waren wir beide ganz entschieden abgewichen.
Wir waren nicht mehr linientreu.
Der Arzt mußte zwar gemerkt haben, daß wir völlig nüchtern waren. Trotzdem schrieb er auf den Zettel: »Gegen die Ausnüchterung des Obengenannten auf dem zuständigen VP-Revier bestehen ärztlicherseits keine Bedenken.«
Wir wurden zurück in die Dimitroffstraße gebracht. Dort übergaben uns die Volkspolizisten an die Kollegen der Staatssicherheit. Nach endlosem Marsch treppauf, treppab empfingen uns zwei Männer in Uniform. Einer der Offiziere,ich habe nur noch seine dunklen Haare und seine harte Stimme in Erinnerung, zeigte auf eine Metalltür am Gangende, die offensichtlich zum benachbarten Gefängnistrakt führte.
»Guckt euch diese Eisentür gut an! Dahinter verschwindet ihr bald!«
Die Angst in meinem Bauch war nun manifest geworden.
Der Mann mit den schwarzen Haaren führte meinen Bekannten in einen Raum, der andere mich in den benachbarten. 2.30 Uhr begann das Verhör.
Nun ging es los: Fragen, Fragen, Fragen. Der Tonfall wechselte. Mal leiser, mal lauter. Eine rhetorische Berg-und-Tal-Fahrt. Ich saß in dem kargen Raum, mir gegenüber ein Mann, den ich mit blonden Haaren in Erinnerung habe. Und jeder Frage folgte eine Nachfrage. Während ich redete, dachte ich immer wieder: Du mußt hier raus. Wenn sie eine Hausdurchsuchung machen, bist du verloren. Mein Gedicht gegen die Sprengung der Unikirche … Bücher wie Wolfgang Leonhards »Die Revolution entläßt ihre Kinder«, Robert Havemanns »Dialektik ohne Dogma?«, Wolf Biermanns »Die Drahtharfe«, Materialien über die Reformbewegung in der ČSSR, Westzeitungen … würden das Strafmaß automatisch erhöhen. Nach Stunden permanenten Fragens kam der Stasi-Mann von nebenan herein, flüsterte mit meinem Vernehmer. Ich glaubte das Wort Zwickau zu verstehen. Vermutlich hatten sie Kontakt mit der dortigen Stasi hergestellt. Ehe er den Raum wieder verlassen hat, blieb er neben meinem Stuhl stehen, nickte und sagte verächtlich und böse: »Ihr geht drei Jahre ab!«
Ich glaubte das auf der Stelle.
Ich dachte sofort an meine Mutter, an ihre Herzbeschwerden, und zu meiner Angst gesellte sich nun die Angst um meine Mutter. Wenn sie erfahren würde, daß ich drei Jahre ins Gefängnis komme … Meine Gefühle gingen mit mir durch. Ich mußte weinen. Der Mann mir gegenüber, der keine Miene verzog, fragte mich dennoch, warumich heule. Ich sagte ihm: »Wegen meiner Mutter. Wenn sie erfährt, daß ich ins Gefängnis muß … das verkraftet sie nicht.«
Kühl und nüchtern kam seine Reaktion. »Das hätten Sie sich eher überlegen müssen.«
Dann ging er für einige Zeit aus dem Raum. In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Wenn sie jetzt in meinem Zimmer eine Hausdurchsuchung machen! Und immer wieder der eine Gedanke: Du mußt hier raus. In deine Bude. Alles Belastende verstecken, vernichten. Wie viele Stunden waren schon vergangen? Vielleicht würde er gleich wieder hereinkommen und das gefundene belastende Material vor mir auf den Tisch legen?
Als er zurückkam, legte er mir im Vorbeigehen eine Zigarette auf den Tisch. Eine völlig unerwartete Geste. Ob Berechnung oder nicht, ich nahm dankbar die für mich in diesen Stunden menschlich wirkende Regung zur Kenntnis.
Und neue Fragen und Nachfragen. Immer wieder ging es um die Ereignisse in der ČSSR und meine Meinung dazu und um meine Haltung zur DDR. Ich rechnete damit, daß es Unterlagen geben würde, daß mich die Staatssicherheit bei den Protesten an der Unikirche registriert hatte. Doch das erwähnte er nicht. Eine Frage ist mir allerdings im Gedächtnis haftengeblieben: »Wo waren Sie am 20. Juni 1968?!«
Mir war sofort klar, was gemeint war. Die »Provokation« zum III . Internationalen Bach-Wettbewerb. Während der Preisverleihung in der Kongreßhalle entrollte sich im Bühnenhintergrund eine Stoffbahn, auf der die Silhouette der Kirche mit den beiden Jahreszahlen 1240 und 1968 zu sehen war. Hinter der zweiten Jahreszahl ein Kreuz. Daneben stand der Satz »Wir fordern Wiederaufbau«. Die Zuschauer hielten einen Moment inne, um das Unfaßbare zu realisieren, und klatschten anschließend frenetisch Beifall.
An der Frage merkte ich, daß man die mutigen Leute noch nicht
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