Max Weber (German Edition)
ist der Beruf der Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit? und welches ihr Wert?»
Um diese Frage zu klären, beleuchtete Weber das Wissenschaftsbild im Wandel der Menschheitsgeschichte. Während in der Antike die Wissenschaft die Vorstellung einer absoluten Wahrheit verfolgte, die den Blick auf «das wahre Sein» ermögliche, so sei sie in der Neuzeit zu einer Welt künstlicher Abstraktionen geworden, die vergebens die echte Welt «einzufangen» versuche. Als Begründung führte Weber den Wandel vom «Begriff» zum «Experiment» als zentralem Instrument der modernen Wissenschaft an. In der Antike basierte die Wissenschaft auf der Annahme, dass alles erfahrbar sei: Wenn man erst einmal die wahre Identität einer Sache verstanden habe – einen «Begriff» von ihr habe –, so könne man daraus alles andere erschließen. Seit der Renaissance ist jedoch das Experiment das treibende Organ der Wissenschaft. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass auf Basis erfahrbarer Umstände größere Zusammenhänge erschlossen werden können. Künstlerische Experimentatoren wie Leonardo da Vinci nahmen dies zum Anlass, nach der «wahren Natur» zu suchen. Dieses Verständnis der Wissenschaft als Weg zur Natur ging jedoch verloren und musste einem Gegenkonzept weichen, welches die Loslösung von der Wissenschaft als Weg zurück zur Natur verstand. Auch theologische Aspekte, die zwischenzeitlich Einfluss auf die Naturwissenschaft nahmen – nach der Idee, dass wissenschaftliche Forschung zum Verständnis der Werke Gottes führen könne –, verschwanden aus der (abendländischen) Wissenschaft. Entwürfe, die der Wissenschaft einen absoluten Sinn hätten geben können, waren also nur von temporärer Bedeutung. Ein Blick auf die Geschichte bringt keinen übergeordneten Sinn hervor, der die Arbeit eines Wissenschaftlers untermauern oder rechtfertigen könnte. Laut Tolstoi existiert ein solcher Sinn auch gar nicht, da Wissenschaft auf die zentralen Fragen der Menschheit – Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben? – nicht antworten könne. Wissenschaft im modernen Sinne basiert auf Logik und Methodik; die Motivation, Wissenschaft zu betreiben, ist jedoch subjektiver Natur und daher nicht selbst Bestandteil konkreter Wissenschaften. Die Subjektivität dieser grundlegenden Motivationen birgt die Gefahr, politisiert zu werden, was besonders unter dem Deckmantel der akademischen Wissenschaft gefährlich sein kann.
Eine abschließende Bewertung der Wissenschaft in Hinsicht auf ihren grundlegendsten Sinn ist nach Weber nicht möglich, da verschiedene Weltordnungen und Weltanschauungen im ständigen Wettstreit miteinander stehen und eine Entscheidung für oder gegen die eine oder andere nicht wissenschaftlich, sondern politisch wäre. Wissenschaft könne nur Klarheit darüber schaffen, auf welche nicht weiter zu hinterfragende Grundposition sich bestimmte Theorien stützen. Auf dieser Grundlage sollte jeder Wissenschaftler in der Lage sein, «sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns». Wer die Subjektivität der Grundlagen der Wissenschaft nicht ertragen könne, soll laut Weber zurück in die Kirche gehen und keine Wissenschaft betreiben, auch keine Theologie. Wer jedoch in der Lage sei, einen nicht vorhandenen objektiven Sinn durch individuellen Antrieb zu ersetzen, solle an die Arbeit gehen und der «Forderung des Tages» gerecht werden, menschlich sowohl wie beruflich: «Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.»
Es waren gewiss gerade diese Schlusspassagen jenes Münchner Vortrags, die einige seiner Zuhörer zutiefst verstörten, andere nachhaltig beeindruckten. Man muss aus diesem sehr kontextgebundenen Gelegenheitsvortrag nicht gleich «einen philosophischen Text» machen (Wolfgang Schluchter), aber als ein sehr persönliches Dokument eines Wissenschaftlers, der sich an diesem Wendepunkt seines Lebens schonungslos nach dem Sinn seines eigenen Tuns befragt, dient er auch heute noch sowohl als Ausgangspunkt der Selbstbefragung jedes wissenschaftlich Tätigen als auch als autobiographisches Zeugnis für einen Max Weber gegen Ende seines wissenschaftlichen Schaffens.
VIII Der deutsche Unheilsprophet. Politik als Beruf
Die Rede Max Webers über Politik als Beruf, die dieser am 28. Januar 1919 ebenfalls vor dem Freistudentischen Bund in München hielt, setzte die öffentliche Selbstbefragung des nachdenklich
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