Maya und der Mammutstein
hinaus, und sie spürte, daß jetzt die Herden, donnernd und riesig, vor seinem geistigen Auge vorbeigaloppierten. Sie konnte sich den Augenblick nicht vorstellen.
»Nein«, sagte sie leise, »aber ich würde sie gerne sehen.«
Mehrere Minuten blieben sie so sitzen; ihre Finger arbeiteten wie von selbst, und er verharrte in Gedanken versunken an ihrer Seite. Die Sonne des Frühlings streichelte sie bereits sachte mit ihren Strahlen, wärmte sie; Maya konnte die Geräusche des Lagers vernehmen - das schrille, hohe Lachen der Kinder, die Frauen, die sich gegenseitig etwas zuriefen, ein gelegentlicher Aufschrei von einer Schar Jäger, die Speere auf einen entfernten Busch schleuderten -, und sie wünschte sich plötzlich, daß dieser Augenblick nie vorübergehen würde. Obwohl Maya nur noch wenige Erinnerungen in ihrem armen, verwirrten Gedächtnis geblieben waren, genügte das wenige, woran sie sich erinnerte, um ihr diesen Augenblick noch kostbarer erscheinen zu lassen. Es ist so friedlich, dachte sie. So wundervoll friedlich.
Sie seufzte und berührte Karibu zärtlich an der Schulter. »Da kommt Faust«, sagte sie.
Karibus Blick schwenkte aus der Ferne auf die Gestalt des Schamanen.
Gebrochene Faust war bis zur Taille nackt, und die Sonne glänzte auf seinem glatten, muskulösen Brustkorb und auf seinem Rücken. Er lächelte beim Näherkommen.
»Ho, Karibu!« rief er ihnen zu.
Karibu hob die rechte Hand zu einer Geste der Begrüßung. »Faust«, erwiderte er.
Der Schamane erreichte sie und hockte sich neben Karibu. Er nickte Maya kurz zu, grüßte sie jedoch nicht mit Namen. Maya verspürte immer noch ein wenig Angst vor ihm - seine ersten Befragungen waren nicht besonders freundlich gewesen. Später, als sein Interesse an ihr zu schwinden begann, war es erträglicher gewesen. Mittlerweile, das wußte sie nun, betrachtete er sie schlicht als Frau ihres Mannes, der man nur wenig Aufmerksamkeit schenken mußte.
Sie hatte nichts gegen diese neue Entwicklung, da sie Faust immer noch fürchtete. Sie war sich nicht sicher, warum das so war. Vielleicht hatte es mehr damit zu tun, was er war - ein Schamane -, als damit, wer er war.
Maya hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie Schamanen nicht besonders mochte, auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, warum das so sein könnte.
»Ein schöner Tag, Faust«, sagte Karibu.
Der Schamane bekundete Zustimmung und wippte auf den Füßen vor und zurück. Offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen, das er loswerden wollte. Karibu wartete. Schließlich klatschte Gebrochene Faust einmal in die Hände, eine merkwürdige formelle Geste.
»Ich möchte, daß du noch einmal ins Grüne Tal gehst«, erklärte er.
»Nimm ein paar von den Jägern mit - Schlange vielleicht und auch Ratte.
Sieh es dir einfach noch einmal an, und dann komm zurück und berichte mir, was du entdeckt hast.«
Karibu starrte ihn verständnislos an. »Warum?«
»Ich habe mit den Geistern gesprochen«, versetzte Faust, den die Frage überraschte. »Ich muß ein paar Dinge wissen.«
»Was für Dinge?«
Der Schamane ballte seine Hände zu Fäusten und drehte sie hin und her.
»Ich weiß nicht genau«, sagte er schließlich. »Ich habe Träume gehabt.
Vielleicht werden wir ins Grüne Tal zie hen, anstatt den Fluß entlang zu wandern.« Er unterbrach sich, um dann Karibu anzustrahlen. »Der Geist der Lüfte will es so. Wann brichst du auf?«
Karibu behielt eine ausdruckslose Miene bei, wenn es innerlich auch in ihm brodelte. Ins Grüne Tal ziehen l Was ging in Faust vor, daß er dies von ihm verlangte? Aber im Grunde war das gleichgültig. Wenn der Geist der Lüfte es wünschte, welche andere Möglichkeit blieb ihm dann noch?
»Morgen bei Anbruch des Tages«, erklärte er schließlich nach kurzem Überlegen.
»Das ist gut«, gab Faust zur Antwort. Er erhob sich, gönnte Maya einen zweiten flüchtigen Blick und setzte hinzu: »Sorge dafür, daß dein Mann einen warmen Umhang für den Marsch hat«, trug er ihr auf. Dann wandte er sich um und ging federnden Schrittes davon, anmutig wie eine große Katze auf der Jagd.
Maya warf Karibu einen Blick zu. »Was hat er vor?«
Karibu richtete sich auf. »Ich weiß es nicht.«
Bedächtig legte sie die Flickarbeit auf den Baumstumpf neben sich. »Es ist fertig«, ließ sie ihn wissen. Er griff nach dem Überwurf, unterzog ihn einer Prüfung, nickte und lächelte sie an.
»Sei vorsichtig«, beschwor sie ihn.
»Darauf kannst du dich verlassen«, gab er
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