Maya und der Mammutstein
»Lieder«, gab sie schließlich zur Antwort.
»Was für Lieder?«
»Hmm, über die Mutter. Und die Ge ister...« Mayas Stimme verlor sich, als sie darüber nachdachte, daß sie Zaubers jüngste Unterweisung, wenn es denn eine gewesen war, nicht ganz verstand. In letzter Zeit hatte der Schamane es aufgegeben, sie etwas über bestimmte Pflanzen oder die Zubereitung von Umschlägen zu lehren oder darüber, aus den Innereien einer Ente zu deuten, was der Wille der Geister war. Jetzt ging es hauptsächlich um Geschichten, Geschichten allerdings, die in ihren Augen wenig Sinn machten. Zauber sang ihr von einer endlosen Wanderung vor, von tiefen Eisschluchten, von einem fernen Ort, wo einst ein anderes Mädchen gelebt hatte, ein Mädchen mit einem grünen und einem blauen Auge.
Maya fand die Idee tröstlich, daß es einmal jemanden wie sie gegeben hatte, doch sie wußte nicht, was das mit ihrem jetzigen Leben zu tun haben könnte.
»Er hat gesagt, daß es einmal ein Mädchen wie mich gegeben hat.«
Beeres Augen verengten sich. Das kam gefährlich nah ans Herz des Geheimnisses heran. Was dachte sich Alter Zauber dabei? Beere beugte sich vor dem Wissen des alten Mannes um
die Geister, aber doch nicht so bedingungslos, wie eine jüngere und unerfahrenere Frau es getan hätte. Beere wußte selbst einiges über die Geister. Was Maya anging, so machte sie sich um andere Dinge Sorgen.
Nicht die Geister waren eine Bedrohung für sie, sondern Wesen aus Fleisch und Blut, die auf zwei Beinen gingen und aus Angst Gräßliches taten.
Alte Beere war wie gelähmt gewesen, als der Schamane ihr schließlich das Geheimnis anvertraut hatte. Doch sie hatte sich schnell gefaßt und sich Gedanken gemacht, was zu tun sei.
»Ist Geist eine Gefahr für Maya?« hatte sie damals mit ausdrucksloser Stimme gefragt.
Zauber hatte genickt.
»Speer auch«, sagte Beere. »Er hat Angst vor dem Mädchen. Und natürlich Haut. Maya macht auch ihm angst, und er gibt ihr die Schuld am Tod seiner Frau und seiner Tochter. Er fürchtet die Geister nicht so, wie Speer es tut.«
Zauber hatte sich vorgebeugt und ziellos in dem Feuer zwischen ihnen herumgestochert. »Speer ist der Anführer, wenn wir einen solchen benötigen. Haut ist wohlgelitten, geachtet. Das Volk wird auf sie hören und ihre Meinungen übernehmen. Was Geist anbelangt... nun, Geist ist eben Geist.«
Beere hatte die Lippen geschürzt. Geist war mehr als Geist. Geist würde das größte Problem sein.
Nun, da sie mit dem vierzehnjährigen Mädchen - nein, berichtigte Beere sich, mit der vierzehnjährigen Frau - über den Weg schwankte, erinnerte sie sich an jenen schrecklichen Tag, und der Geruch brennender Leichen war wieder frisch in ihrer Nase, den sie wahrgenommen hatte, als die beiden, die bei weitem zu alt für eine solche Aufgabe waren, einander geschworen hatten, alles zu tun, damit das Geheimnis erfüllt werde.
Das einzige, was niemals in Frage gestanden hatte, war, daß sie das Geheimnis bewahrten. Bis die Kindfrau an ihrer Seite ihr Erbe vollends antreten würde, bot sie ein erschreckend leichtes Ziel für mögliche Widersacher. Und da weder Alte Beere noch Alter Zauber eine Vorstellung davon hatten, was genau dieses Erbe sein mochte, konnten sie nur warten und lehren und Maya, so gut sie konnten, beschützen.
Sie seufzte tief. »Maya«, sagte sie bedächtig, »eines Tages wirst du alles verstehen. Aber jetzt noch nicht. Doch deine Zeit wird kommen. Ich verspreche es dir.«
Und dann stapfte sie weiter und wollte nichts mehr sagen. Maya ging neben ihr her, Beeres dürren Arm mit ihren beiden starken Schultern stützend.
Alte Beere hatte viel Seltsames gesagt, das sie würde überdenken müssen
... doch gerade, als sie anfing, diese merkwürdigen neuen Gedankengänge aufzugreifen, hörte Maya den Lärm über ihren Köpfen.
Beere ging schneller. Maya fragte sich, welchen Grund es für das Geschrei geben mochte, das sie vernehmen konnten. Egal, sie würde es schon bald genug herausfinden. Das Lager lag nun lediglich ein paar hundert Stocklängen weit vor ihnen.
Geist wandte sich den Jägern zu, die schreiend von Norden herbeigeeilt kamen. Merkwürdig. Für gewöhnlich kehrte Speer durch das Tal selbst zurück, doch aus irgendeinem Grund hatte er eine andere, längere Route gewählt.
Geist schnalzte ungeduldig mit der Zunge, mittlerweile gründlich verärgert. Speer hatte wenig Sinn für Zeit, das wußte Geist - >zu spät< waren für ihn Worte ohne Bedeutung, so daß Geist
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