Maya und der Mammutstein
sein Ausbleiben nicht völlig überraschte. Er selbst hatte ein Gespür für Zeit, schon aus der Notwendigkeit heraus, Rituale in der richtigen Weise ablaufen zu lassen, um jeden einzelnen Geist zu besänftigen. Speer scherte sich nicht um solche Dinge.
Aber das war es nicht, was Geist am meisten verärgerte. Der Jäger schien ihn völlig vergessen zu haben, denn obwohl er sah, daß Speers Blick in seine Richtung schweifte, eilte er doch sofort weiter zum Geisterhaus. Zu Altem Zauber, der aus dem Geisterhaus getreten war und nun schmerzhaft verkrümmt dort stand, sich auf seinen geschnitzten Stock stützend.
Also mußte es etwas Wichtiges sein. Und auf irgendeine Weise mußte der alte Mann davon Kenntnis erhalten haben, denn auch wenn er seine große Kariburobe nicht trug, hatte er doch die Würdenzeichen seines Amtes bei sich: die Rassel, die getrocknete Schlange, den Zeremonienspeer. Geist ahnte, daß auch der Mammutstein nicht weit war.
Als er mit angemessen gesetzten Schritten auf die vor dem Geisterhaus zusammengelaufene Menge zuging, versuchte Geist, den Ärger zu unterdrücken, der in ihm hochstieg. Eigentlich hätte Speer zu ihm, Geist, kommen sollen, doch der alte Schamane weigerte sich hartnäckig, sein Amt an seinen Nachfolger zu übergeben. Und so lange er das tat, würden Speer und Haut und all die anderen zuerst zu ihm gehen.
Der Unwille darüber brannte sich mit jedem weiteren Tag tiefer in sein Herz. Und diese Brandwunde hatte, auch wenn Geist das nicht erkannte, zu schwären begonnen. Alles, was er mit Sicherheit wußte, war, daß er Alten Zauber zu hassen begonnen hatte, ihn und seine Verbündete Alte Beere, die ihn so verachtete. Doch die volle Wucht seines Zorns war für jemand anderen bestimmt: Maya.
Seit vierzehn Jahren bereute er es, daß er sie damals zu töten versäumt hatte. Seine Züge verhärteten sich, als er sie erblickte: die alte und die junge Frau, die sich vorsichtig auf dem Pfad vom Ersten See her näherten.
Sie waren draußen im Wald gewesen, zweifellos, um geheime Dinge zu beratschlagen. Zweifellos, um schlecht über ihn zu reden. Er wußte, daß die Alte ihn haßte. Wahrscheinlich tat es die junge Hündin mittlerweile ebenso. Und allen noch so subtilen Versuchen von Geist zum Trotz, stand das Mädchen Altem Zaubers Herzen am nächsten. Er konnte nicht verstehen, warum dem so war. Es war ein Geheimnis. Eines jener Geheimnisse, die der alte Mann, so fürchtete Geist, immer noch vor ihm hütete.
Er knirschte mit den Zähnen, und der kleine Schmerzstich, den diese Bewegung verursachte, erfüllte ihn mit Befriedigung. Schmerz war gut.
Das Volk brauchte Schmerz, damit es wachsam und stark blieb, um die Schwachen auszumerzen und den Geistern zu huldigen.
Dieser Gedanke erfreute sein Herz. Schmerz. Eines Tages würde es keine Geheimnisse mehr geben. Und für die eine, die eine, die er am meisten von allen haßte, würde es Schmerz geben. Größeren Schmerz, als sie jemals erlitten hatte.
Alter Zauber stand vor dem Geisterhaus. Seine Gedanken waren immer noch von dem Traum erfüllt, doch er kam allmählich wieder zu Sinnen.
»Speer«, sagte er schließlich. »Fang noch einmal von vorne an. Und diesmal langsam.«
»Schamane, wir waren beim Jagdgrund am Fluß. Das weißt du.«
Zauber nickte.
»Wir entdeckten eine seltsame Fährte. Und dann erblickten wir Rauch von einem Feuer. Wir sind in der Nacht dorthin geschlichen, wo wir den Rauch gesehen haben. Als die Dämme rung kam, sind wir noch näher rangegangen. Schamane, es waren Menschen, Menschen wie wir!« Speer hielt verwirrt inne. »Nun, eigentlich nicht genau wie wir, denn die gehörten ja nicht zum Volk. Aber sie sahen so aus wie wir!«
Die Furcht bildete einen schweren Klumpen in Zaubers Magen. Der Traum, der ihn zuvor überkommen hatte, hatte auf Gefahr gedeutet, Gefahr für ihn selbst, Gefahr auch für das Volk.
Nun wußte er, was die Warnung bedeutet hatte, und das Blut in seinen alten Ader fühlte sich an wie Eis.
Zu früh!
Er ließ den Blick über die kleine Menge schweifen, die sich vor ihm versammelt hatte und nun schwirrte und summte wie Fliegen über einem verdorbenen Stück Fleisch, und sah Alte Beere näherkommen, die sich schwer auf Mayas Schulter stützte.
Aus der entgegengesetzten Richtung hinkte Geist eilig herbei, das Gesicht finster wie eine Gewitterwolke.
Speer vor ihm musterte ihn ängstlich, und Haut, gleichermaßen besorgt, stand direkt hinter ihm. Zauber schien es eine kurzen Moment lang, als
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