Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Chiloé ist kalt und lang, aber viel besser zu ertragen als im Norden der Welt, weil man hier keinen Schnee schippen und sich nicht in Pelze packen muss. In der Schule findet Unterricht statt, sofern das Wetter es zulässt, aber das Trucospiel in der Kneipe fällt nie aus, selbst wenn der Himmel von Blitzen zerrissen wird. Es fehlt nie an Kartoffeln in der Suppe, an Brennholz im Ofen oder an Matetee für die Freunde. Mal haben wir Strom, mal zünden wir Kerzen an.
Wenn es nicht regnet, trainieren die Jungs von der Caleuche-Mannschaft wild entschlossen für die Meisterschaft imSeptember, keiner hat größere Füße bekommen, und die Fußballschuhe passen alle noch. Juanito ist Ersatzspieler, und Pedro Pelanchugay wurde zum Torwart gewählt. Hierzulande wird alles durch demokratische Wahl oder das Einsetzen einer Kommission entschieden, was manchmal ein bisschen umständlich ist, aber die Chilenen halten einfache Lösungen für illegal.
Doña Lucinda ist hundertzehn geworden und erinnert in den letzten Wochen mehr und mehr an eine verstaubte Stoffpuppe, kann sich nicht mehr aufraffen, ihre Wolle zu färben, sitzt nur da und sieht hinüber in den Tod, aber ihr wachsen neue Zähne. Bis zum Frühling wird es kein Curanto und keine Touristen hier geben, unterdessen stricken die Frauen und basteln, weil es Sünde ist, die Hände in den Schoß zu legen. Nichtstun ist etwas für Männer. Ich lerne stricken, damit ich nicht schief angeschaut werde; vorerst übe ich an Schals, nur rechte Maschen und mit dicker Wolle.
Die Hälfte der Inselbevölkerung ist erkältet, hat Husten oder Gliederschmerzen, doch wenn das Boot vom Gesundheitsdienst ein oder zwei Wochen ausbleibt, wird es nur von Liliana Treviño vermisst, die, wie es heißt, etwas mit dem milchgesichtigen Arzt hat. Der Priester wiederum ist jeden Sonntag pünktlich zur Stelle, um die Messe zu lesen, damit ihn die Pfingstler und Evangelikalen nicht ausstechen. Manuel meint, das werde so leicht nicht passieren, die katholische Kirche habe in Chile mehr Einfluss als im Vatikan. Er hat mir erzählt, Chile habe als letztes Land dieser Erde ein Scheidungsgesetz verabschiedet, und das sei so kompliziert, dass man den Ehegatten besser umbringt, als die Scheidung einzureichen, deshalb heirateten die Leute erst gar nicht, und die meisten Kinder kämen unehelich zur Welt. Über Abtreibung wird nicht gesprochen, schon das Wort gilt als unfein, praktiziert wird sie allerdings reichlich. Die Chilenen verehren den Papst, hören aber in sexuellen Fragen und bei deren Folgen nicht auf ihn, weil ein alterMann, der im Zölibat lebt, ein gutes wirtschaftliches Auskommen hat und nie im Leben arbeiten musste, davon wenig versteht.
Die Soap kommt nur schleppend voran, inzwischen sind wir bei Folge zweiundneunzig, und alles ist noch genau wie am Anfang. Die Serie ist das wichtigste Ereignis auf der Insel, und das Unglück der Figuren schlimmer als das eigene. Manuel schaut die Serie nicht, und ich kann dem, was die Schauspieler sagen, nicht richtig und der Handlung fast überhaupt nicht folgen, offenbar ist eine gewisse Elisa von ihrem Onkel entführt worden, der sich in sie verliebt hat und sie irgendwo gefangen hält, und die Tante sucht nach ihr, um sie umzubringen, statt ihren Mann umzubringen, was viel sinnvoller wäre.
Meine Freundin, die Pincoya, und ihre Seelöwenfamilie sind nicht mehr bei der Grotte; sie sind in andere Gewässer und auf andere Klippen umgezogen, kommen aber wieder; die Fischer haben mir versichert, dass die Tiere feste Gewohnheiten pflegen und immer im Sommer zurückkehren.
Livingston, der Polizeihund, ist ausgewachsen und ein polyglottes Tier geworden: Er versteht Anweisungen auf Englisch, Spanisch und Chilotisch. Ich habe ihm eine Handvoll Tricks beigebracht, die jedes Haustier kennt, und den Rest hat er allein gelernt, so dass er jetzt Schafe und Betrunkene zusammentreibt, die Beute apportiert, wenn man ihn zur Jagd mitnimmt, bei Feuer oder Überschwemmung anschlägt, Drogen aufspürt – außer Marihuana – und Humilde Garay zum Spaß angreift, wenn der es ihm zu Vorführzwecken befiehlt, aber im richtigen Leben ist er sehr brav. Leichen hat er noch keine entdeckt, weil wir leider keine hatten, wie Garay sagt, aber er hat den vierjährigen Enkel von Aurelio Ñancupel gefunden, als der auf dem Hügel verlorenging. Für meine Ex-Stiefmutter Susan wäre ein Hund wie Livingston Gold wert.
Ich habe zweimal beim Hexentreffen in der Ruca gefehlt,das erste Mal,
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