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Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Titel: Mayas Tagebuch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Jesusfigur besteht aus einem Drahtgestell mit Kopf und Händen aus Holz, trägt eine Perücke aus Menschenhaar, hat Glasaugen und eine von Tränen und Blut überströmte Leidensmiene. Zu den Aufgaben des Küsters gehört unter anderem, das Blut vor den Prozessionen mit Nagellack aufzufrischen. Vervollständigt wird das Bild durch eine Dornenkrone, eine dunkelblaue Kutte und ein schweres Kreuz. Manuel hat über den Jesus von Caguach geschrieben, der schon über dreihundert Jahre alt ist und ein Sinnbild für die Gläubigkeit der Menschen von Chiloé, für ihn war das alles nicht neu, aber er ist trotzdem mit mir hingefahren. Für mich, die Gringa aus Berkeley, hätte das Spektakel heidnischer nicht sein können.
    In Caguach leben fünfhundert Menschen auf zehn Quadratkilometern, doch zu den Prozessionen im Januar und August kommen Tausende Gläubige; in Massen strömen sie herbei, um ihre Gelübde und Versprechen einzulösen, und es braucht die Unterstützung von Marine und Polizei, um den Betrieb auf See und während der viertägigen Feierlichkeiten an Land in geordneten Bahnen zu halten. Der Jesus von Nazareth vergibt denjenigen nicht, die ihre Schuldfür erhaltenen Beistand nicht abgelten. In den Messen quellen die Körbchen für die Kollekte über von Geld und Schmuck, die Pilger geben, was sie können, einige trennen sich sogar von ihren Handys. Mir war angst und bange, erst auf der Cahuilla, die stundenlang schaukelnd in den Wellen hing und von einem tückischen Wind herumgeschubst wurde, während Pater Lyon am Heck saß und Loblieder auf den Herrn sang, dann auf der Insel selbst zwischen den Fanatikern und schließlich auf der Heimfahrt, als die Pilger unser Boot enterten, weil nicht genug Transportmittel verfügbar waren. Elf Männer und Frauen nahmen wir auf der Cahuilla mit, sie mussten stehen, stützten sich gegenseitig, ein paar von ihnen waren betrunken und fünf Mütter hielten ihre schlafenden Kinder im Arm.
    Ich war mit gesunder Skepsis nach Caguach gefahren, wollte mir das Fest nur ansehen und es filmen, wie ich es Daniel versprochen hatte, aber ich muss zugeben, dass der religiöse Eifer mich ansteckte, und am Ende dankte auch ich auf Knien vor der Jesusfigur für zwei vorzügliche Neuigkeiten, die meine Nini geschrieben hatte. Ihr Verfolgungswahn treibt sie dazu, verrätselte Botschaften zu verfassen, aber da sie lange schreibt und oft, kann ich erraten, was sie meint. Zum einen ist es ihr endlich gelungen, das buntbemalte Haus meiner Kindertage zurückzubekommen, nach drei Jahren Rechtsstreit mit dem indischen Geschäftsmann, der den umfassenden Mieterschutz von Berkeley schamlos ausnutzte und nie Miete zahlte. Meine Großmutter hat saubergemacht und die schwersten Schäden behoben und vermietet jetzt einzelne Zimmer an Studenten, das bringt genug Geld, um das Haus zu halten und selbst drin zu wohnen. Wie gern würde ich mal wieder durch diese wunderbaren Räume gehen! Die zweite Neuigkeit ist aber noch viel wichtiger und hat mit Freddy zu tun. Olympia Pettiford hat zusammen mit einer Begleiterin, offenbar eine ähnlich beeindruckende Erscheinung wie sie selbst, Freddy nachBerkeley geschleift und ihn dort in die Obhut von Mike O’Kelly gegeben.
    Auf Caguach schliefen Manuel und ich im Zelt, weil es nicht genug Unterkünfte gab. Eigentlich sollte man dort besser auf den Ansturm der Gläubigen vorbereitet sein, schließlich wiederholt der sich zweimal jährlich seit über einem Jahrhundert. Der Tag war feucht und eisig gewesen, aber die Nacht wurde noch schlimmer. Wir bibberten in unseren Schlafsäcken, obwohl wir unsere sämtlichen Sachen anhatten, auch Mütze, Wollsocken und Handschuhe, der Regen prasselte aufs Zeltdach, und das Wasser drückte sich von unten durch die Bodenplane. Schließlich beschlossen wir, die Schlafsäcke zu verbinden, und in einem großen zu schlafen. Ich schmiegte mich an Manuels Rücken, und keiner von uns verlor ein Wort über unsere Abmachung vom Februar, dass ich nicht noch einmal in sein Bett kriechen würde. Wir schliefen selig, bis die Pilger draußen zu lärmen begannen.
    Hungern musste keiner, es gab unzählige Stände mit Essen: Empanadas, Würstchen, Meeresfrüchte, in Glut gegarte Kartoffeln, Lamm am Spieß und chilenische Süßigkeiten, außerdem floss der Wein in Strömen, allerdings heimlich und aus Limoflaschen, weil Alkohol bei religiösen Festen von den Geistlichen nicht gern gesehen wird. Es gab zu wenig Toiletten, eine Reihe von Plastikklos, die schon

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