Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
nach ein paar Stunden widerlich waren. Männer und Kinder verschwanden hinter den Büschen, aber für die Frauen war das schon schwieriger.
Am zweiten Tag musste Manuel auf eins der Klos gehen, aus unerfindlichen Gründen verklemmte sich die Tür, und er war drinnen eingesperrt. Ich sah mir gerade an einer Seite der Kirche die Stände für Kunsthandwerk und Krimskrams an und kriegte es erst durch den Tumult mit, der plötzlich losbrach. Aus Neugier ging ich hin, hatte keine Ahnung, was da los war, sah erst nur eine Gruppe von Leuten an einer der Plastikkabinen herumzerren und sie fast umwerfen, und hörte dann Manuel innen schreien und wie wahnsinnig gegen die Wände schlagen. Etliche der Umstehenden lachten, aber ich merkte sofort, dass Manuel Angst hatte wie einer, der lebendig begraben ist. Das Tohuwabohu nahm zu, bis endlich einer, der von der Sache was verstand, die Hilfswilligen beiseiteschob und in aller Ruhe mit einem Taschenmesser den Riegel der Tür abmontierte. Fünf Minuten später konnte er sie öffnen, Manuel schoss heraus, stürzte mit blutrotem Gesicht zu Boden und krampfte und würgte. Da lachte keiner mehr.
Dann war Pater Lyon zur Stelle, und zu zweit halfen wir Manuel auf, hielten ihn an den Armen und machten ein paar zögerliche Schritte auf unser Zelt zu. Der Aufruhr hatte zwei Polizisten angelockt, und sie fragten, ob dem Herrn etwas fehle, obwohl sie bestimmt vermuteten, dass er über Gebühr getrunken hatte, denn mittlerweile schwankten einige Betrunkene durch die Menge. Ich weiß nicht, was Manuel dachte, aber es war, als wäre ihm der Teufel erschienen, mit entsetzter Miene stieß er uns weg, strauchelte, fiel auf die Knie und erbrach einen grünlichen Schaum. Die Polizisten wollten ihm hochhelfen, aber Pater Lyon trat ihnen mit der Gewichtigkeit, die ihm sein Ruf als Heiliger verleiht, in den Weg und versicherte, es handele sich um eine Magenverstimmung und wir könnten uns allein um den Kranken kümmern.
Wir brachten Manuel ins Zelt, wischten ihm mit einem feuchten Tuch Gesicht und Hände sauber und deckten ihn gut zu. Zusammengerollt schlief er drei Stunden lang, als hätte man ihn k.o. geschlagen. »Lass ihn allein, Gringuita, und stell ihm keine Fragen«, hatte Pater Lyon mich angewiesen, ehe er sich wieder seinen Priesterpflichten zuwandte, aber ich wollte nicht weggehen, blieb im Zelt und bewachte Manuels Schlaf.
Auf dem Vorplatz der Kirche waren mehrere Tische aufgebaut, an denen die Priester während der Messe die Kommunion verteilten. Dann begann die Prozession, die Jesusfigur wurde von den Gläubigen auf den Schultern getragen, alles sang aus vollem Hals, Dutzende Büßer rutschten auf den Knien durch den Schlamm oder verbrannten sich die Hände mit dem heißen Wachs der Kerzen und flehten um Vergebung für ihre Sünden.
Ich konnte mein Versprechen, das Ereignis zu filmen, nicht einlösen, weil mir bei der stürmischen Überfahrt nach Caguach die Kamera ins Meer gefallen war; ein geringer Verlust, wenn man bedenkt, dass einer Dame ihr Hündchen über Bord ging. Man zog es halb erfroren, aber atmend aus den Fluten, ein weiteres Wunder des Jesus von Nazareth, wie Manuel sagte. »Lass deinen Atheistenspott, Manuel, sonst gehen wir noch unter«, hatte Pater Lyon geantwortet.
Eine Woche nach der Pilgerreise bin ich mit Liliana Treviño zu Pater Lyon gefahren, eine seltsame, fast konspirative Aktion, von der Manuel und Blanca nichts erfahren sollten. Müsste ich ihnen das erklären, würde ich in die Bredouille geraten, schließlich habe ich kein Recht, in Manuels Vergangenheit zu stöbern, und schon gar nicht hinter seinem Rücken. Aber mich treibt meine Zuneigung, die durch unser Zusammenleben stetig gewachsen ist. Seit Daniel fort ist und es Winter wurde, verbringen wir viele Stunden allein in diesem Haus ohne Türen, das zu klein ist für Geheimnisse. Manuel und ich sind näher zusammengerückt; er vertraut mir endlich, ich darf seine Unterlagen und Notizen lesen, mir seine Bänder anhören, mich an seinen Computer setzen. Die Arbeit bietet mir einen Vorwand, in seinen Schubladen zu kramen. Ich habe ihn gefragt, warum er keine Fotos von Angehörigen und Freunden besitzt, und er sagte, er sei viel gereist, habe oft an unterschiedlichen Orten wieder bei Null angefangen, sich auf seinem Weg von materieller und emotionaler Last befreit, und um sich an die Menschenzu erinnern, die ihm wichtig sind, brauche er keine Fotos. Auf seinem Computer habe ich nichts über den Teil seiner
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