Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
wegen der tückischen Strömung untersagt. Wir können es nicht brauchen, dass hier Auswärtige zum Ertrinken herkommen.
Angeblich soll es im Januar und Februar in diesen Breiten trocken und warm sein, aber dieses Jahr muss ein ungewöhnlicher Sommer sein, jedenfalls regnet es ständig. Die Tage sind lang, noch hat die Sonne keine Eile beim Untergehen.
Ich schwimme im Meer, obwohl Eduvigis mich vor den Strömungen warnt, vor den räuberischen Lachsen, die aus den Käfigen der Züchter ausgebrochen sind, und vor Millalobo, einem golden behaarten Mischwesen aus Mensch und Seelöwe, das mich bei Flut entführen könnte. An diese Liste drohender Unbilden fügt Manuel noch Unterkühlung an, weil angeblich nur eine leichtsinnige Gringa auf die Idee kommen kann, ohne Neopren in diesem Eiswasser zu baden. Ich habe hier überhaupt noch nie jemanden gesehen, der zum Vergnügen ins Meer geht. Kaltes Wasser sei gut für die Gesundheit, behauptete meine Nini früher, wenn bei uns in Berkeley der Warmwasserboiler ausfiel, also ungefähr zwei-, dreimal die Woche. Im letzten Jahr habe ich zu viel Schindluder mit meinem Körper getrieben, ich hätte draufgehen können; hier erhole ich mich langsam, und dafür ist nichts besser als ein Bad im Meer. Ich möchte bloß nicht noch einmal eine Blasenentzündung bekommen, aber bisher ist alles in Ordnung.
Ich bin mit Manuel auf andere Inseln und in andere Dörfer gereist, um die alten Leute zu interviewen, und habe jetzt einen groben Überblick über den Archipel, auch wenn ich noch nicht im Süden war. Mit seinen vierzigtausend Einwohnern ist Castro das Herz der Isla Grande und einebelebte Einkaufsstadt. »Belebt« ist vielleicht etwas hochgegriffen, aber nach sechs Wochen hier ist Castro für mich wie New York. Die Stadt zieht sich hinunter zum Meer, es gibt Pfahlbauten am Ufer und Häuser in gewagten Farben, damit man im Winter, wenn Himmel und Meer grau sind, nicht trübsinnig wird. In Castro hat Manuel seine Bank, seinen Zahnarzt und seinen Friseur, dort deckt er sich mit Vorräten ein, bestellt seine Bücher und holt sie ab.
Wenn das Meer aufgewühlt ist und wir nicht mehr rechtzeitig nach Hause kämen, übernachten wir in der Pension einer Österreicherin, deren prachtvolles Hinterteil und praller Vorbau Manuel zum Erröten bringen, und stopfen uns bei ihr mit Schweinebraten und Apfelstrudel voll. Österreicher gibt es hier wenige, dafür wimmelt es von Deutschen. Die chilenische Einwanderungspolitik ist immer sehr rassistisch gewesen, man ließ keine Asiaten, Schwarzen oder sonstigen Farbigen ins Land, sondern ausschließlich weiße Europäer. Im neunzehnten Jahrhundert wollte ein Präsident die Rasse veredeln, hat Deutsche aus dem Schwarzwald angeworben und ihnen Land im Süden gegeben, das ihm nicht gehörte, sondern den Mapuche-Indianern; die Deutschen sollten den Chilenen Pünktlichkeit, Arbeitseifer und Disziplin beibringen. Keine Ahnung, ob das gelungen ist, aber jedenfalls haben sie durch ihre Anstrengungen einige Provinzen im Süden wirtschaftlich vorangebracht und die Gegend mit ihren blauäugigen Kindeskindern bevölkert. Die Familie von Blanca Schnake stammt von diesen Einwanderern ab.
Wir unternahmen extra einen Ausflug, weil Manuel mich mit Pater Luciano Lyon bekannt machen wollte, einem unglaublichen alten Mann, der während der Militärdiktatur zwischen 1973 und 1989 ein paarmal inhaftiert war, weil er sich für die Verfolgten des Regimes einsetzte. Dem Vatikan wurde seine Aufmüpfigkeit irgendwann zu viel, und manschickte ihn aufs Altenteil in ein winziges Dorf in Chiloé, aber der alte Kämpfer fand auch dort genug Gründe, sich zu empören. Zu seinem achtzigsten Geburtstag kamen seine Anhänger von allen Inseln und obendrein zwanzig Busse aus Santiago; zwei Tage wurde auf dem Platz vor der Kirche gefeiert, es gab Lamm und Huhn vom Grill, und der Tafelwein floss in Strömen. Eine wundersame Brotvermehrung, denn egal wie viele Menschen sich anschlossen, immer war noch Essen übrig. Die berauschten Gäste aus Santiago übernachteten auf dem Friedhof und scherten sich nicht um die spukenden Seelen.
Das Häuschen des Geistlichen wurde von einem majestätischen Hahn mit schillerndem Gefieder bewacht, der krähend auf dem Dach stand, und von einem imposanten, ungeschorenen Schafbock, der wie tot über der Türschwelle lag. Wir mussten durch die Küchentür eintreten. Der Bock, der den passenden Namen Methusalem trägt, entgeht einem Ende als Eintopf schon seit so
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