Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
vielen Jahren, dass er sich inzwischen vor Altersschwäche kaum noch rühren kann.
»Was machst du denn hier, so weit weg von daheim, Kind?«, begrüßte mich Pater Lyon.
»Ich bin auf der Flucht vor den Behörden«, sagte ich ernst, und er lachte.
»Das war ich auch sechzehn Jahre lang, und um ehrlich zu sein, fehlt mir das heute.«
Mit Manuel ist er seit 1975 befreundet, als beide nach Chiloé verbannt waren. Die Verbannung sei eine sehr harte Strafe, erklärte er mir, wenn auch nicht so schlimm wie das Exil, denn immerhin sei der Verbannte im eigenen Land.
»Man schickte uns weit weg von der Familie, an irgendeinen unwirtlichen Ort, wo wir allein waren, ohne Geld und Arbeit, und von der Polizei schikaniert wurden. Manuel und ich hatten Glück, denn hier in Chiloé nahmen die Leute uns freundlich auf. Du wirst es nicht glauben, mein Kind, aberwir kamen bei Don Lionel Schnake unter, und der hasst die Linken mehr als den Teufel.«
Dort lernte Manuel auch Blanca kennen, die Tochter des Hauses. Sie war damals Anfang zwanzig und verlobt, ihre Schönheit war in aller Munde und lockte einen Reigen von Verehrern an, die sich von ihrem Verlobten nicht abschrecken ließen.
Manuel verbrachte ein Jahr in Chiloé, kam mit Fischfang und Schreinerarbeiten notdürftig über die Runden, las Bücher über die Geschichte und die Sagenwelt des Archipels, durfte aber Castro nicht verlassen, wo er sich täglich auf dem Kommissariat melden und im Buch der Verbannten unterschreiben musste. Trotz der Umstände verlor er sein Herz an die Gegend; er wollte alle Inseln bereisen, sie erforschen, davon erzählen. Deshalb kam er nach einer langen Wanderung durch die Welt zurück, um seine Tage hier zu beschließen. Nach dem Ende seiner Verbannung konnte er zunächst nach Australien ausreisen, wo chilenische Flüchtlinge Aufnahme fanden und seine Frau ihn erwartete. Mich überraschte, dass Manuel verheiratet gewesen war, er hatte das nie erwähnt. Wie sich herausstellte, hat er sogar zwei Ehen hinter sich, beide ohne Kinder, ist aber lange schon geschieden, und keine der beiden Frauen lebt in Chile.
»Warum wurdest du verbannt, Manuel?«, wollte ich wissen.
»Das Militär schloss die Fakultät für Sozialwissenschaften, wo ich lehrte, weil sie meinten, das sei eine Brutstätte des Kommunismus. Viele Dozenten und Studenten wurden verhaftet, nicht wenige wurden umgebracht.«
»Warst du im Gefängnis?«
»Ja.«
»Und meine Nini? Weißt du, ob sie auch?«
»Nein, sie nicht.«
Wie ist es möglich, dass ich so wenig über Chile weiß? Ich traue mich nicht, Manuel auszufragen, weil ich nicht möchte, dass er mich für ahnungslos hält, habe aber angefangen, im Internet zu recherchieren. Dank der kostenlosen Tickets, die mein Vater als Pilot bekam, gingen meine Großeltern an allen möglichen verlängerten Wochenenden und in den Ferien mit mir auf Reisen. Mein Pop hatte eine Liste von Orten zusammengestellt, die wir sehen sollten, nachdem wir Europa bereist hatten und ehe wir starben. Also besuchten wir die Galápagos-Inseln, den Amazonas, Kappadokien und Machu Picchu, doch in Chile waren wir nie, obwohl das doch logisch gewesen wäre. Dass meine Nini ihr Heimatland nicht mehr sehen wollte, ist mir unbegreiflich, an ihren chilenischen Gewohnheiten hält sie nämlich eisern fest und wird heute noch rührselig, wenn sie zu den Nationalfeiertagen im September die chilenische Fahne vom Balkon hängt. Ich glaube, sie hat Angst, ihre romantische Vorstellung von Chile mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, oder vielleicht gibt es hier etwas, woran sie nicht erinnert werden möchte.
Meine Großeltern waren versierte Reisende. Auf den Bildern in den Fotoalben sieht man uns drei an den erstaunlichsten Orten in den immer gleichen Anziehsachen, weil wir unser Gepäck auf das Unerlässliche beschränkt hatten und die Handkoffer stets gepackt bereitstanden, einer für jeden, so dass wir binnen einer halben Stunde aufbrechen konnten, wenn sich eine günstige Gelegenheit bot oder uns die Reiselust überkam. Einmal lasen mein Pop und ich im National Geographic eine Reportage über Gorillas, in der es hieß, sie seien sanftmütige Pflanzenfresser mit ausgeprägtem Familiensinn, und meine Nini, die eben mit einer Blumenvase in der Hand durchs Wohnzimmer ging, bemerkte leichthin, wir sollten uns die Gorillas mal ansehen. »Ausgezeichnete Idee«, antwortete mein Pop, griff zum Telefon, rief meinen Vater an, besorgte Tickets, und tags darauf waren wir mit
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