Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
verliebt.
Am zweiten Tag nahm der Professor auf dem Beifahrersitz Platz, um seine Fahrerin besser in Augenschein nehmen zu können, und sie drehte etliche unnötige Runden durch die Stadt, um ihm Zeit dafür zu geben. Am selben Abend zog Nidia, nachdem sie mit ihrem Sohn zu Abend gegessen und ihn ins Bett gebracht hatte, ihre Uniform aus, duschte sich, malte sich die Lippen an und machte sich auf den Weg zu ihrer Beute, weil sie ihm eine Mappe zurückgeben wollte, die er im Auto vergessen hatte und die dort gut bis zum nächsten Tag hätte liegen können. Nie zuvor war sie in Belangen der Liebe so waghalsig vorgeprescht. Im eisigen Wind erreichte sie das Appartementhaus, nahm den Aufzug hoch zu der Wohnung, bekreuzigte sich, um sich Mut zu machen, und klingelte an der Tür. Es war halb zwölf in der Nacht, als sie unwiderruflich in das Leben von Paul Ditson II trat.
Meine Nini hatte in Toronto wie im Kloster gelebt. Nachts sehnte sie sich nach einer männlichen Hand auf ihrer Hüfte, aber sie musste sich ums Überleben und um ihren Sohn kümmern in einem Land, in dem sie ewig fremd sein würde; sie hatte keine Zeit für romantische Träumereien. Der Mut, mit dem sie sich an jenem Abend gewappnet hatte, um bis an die Tür des Astronomen zu gelangen, war im Nu verflogen, kaum dass er ihr im Pyjama und mit verschlafener Miene öffnete. Einen Moment sahen die beiden einander an und wussten nicht, was sie sagen sollten, er hatte nicht mit ihr gerechnet und sie keinen Plan, wie es weitergehen sollte, dann bat er sie herein. Er staunte, wie anders sie ohne die Uniformmütze aussah, betrachtete ihr dunkles Haar, ihre unregelmäßigen Gesichtszüge und ihr etwas schräges Lächeln, das er zuvor nur von der Seite hatte sehen können. Sie wiederum staunte über den Größenunterschied zwischen ihnen, der im Auto weniger aufgefallen war: Auf Zehenspitzen würde sie knapp am Brustbein des Riesen schnüffeln können. Als Nächstes fiel ihr Blick in die kleine Suite, in der es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen, woraus sie schloss, dass der Mann sie wirklich brauchen konnte.
Paul Ditson II hatte die meiste Zeit seines Lebens damit zugebracht, den rätselhaften Lauf der Himmelskörper zu erforschen, vom weiblichen Körper wusste er hingegen recht wenig und von den Launen der Liebe nichts. Wirklich verliebt war er nie gewesen, seine letzte Beziehung war die zu einer Kollegin von der Fakultät, mit der er sich zweimal im Monat traf, eine attraktive Jüdin, die sich für ihr Alter gut gehalten hatte und stets darauf bestand, dass sie die Restaurantrechnung teilten. Meine Nini hatte nur zwei Männer in ihrem Leben geliebt, ihren Ehemann und einen Liebhaber, den sie vor zehn Jahren aus ihrem Kopf und ihrem Herzen verbannt hatte. Ihr Mann war ruhelos gewesen, von seiner Arbeit und dem politischen Engagement völlig inAnspruch genommen, immer unterwegs und zu abgelenkt, um ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, und die Beziehung zu dem anderen hatte ein jähes Ende gefunden. Nidia Vidal und Paul Ditson II waren bereit für eine Liebe, die sie vereinen sollte bis zum Ende.
Ich habe die bestimmt etwas rosarot gefärbte Geschichte von der Liebe meiner Großeltern viele Male gehört und könnte sie Wort für Wort wiedergeben wie ein Gedicht. Was in jener Nacht hinter geschlossenen Türen geschah, weiß ich natürlich nicht in allen Einzelheiten, kann es mir aber vorstellen, schließlich kenne ich die beiden. Ob mein Pop, als er dieser Chilenin die Tür öffnete, geahnt hat, dass er an einem Scheideweg stand und die Richtung, die er einschlug, sein weiteres Leben bestimmen würde? Nein, ein so kitschiger Gedanke wäre ihm gewiss nicht in den Sinn gekommen. Und meine Nini? Ich sehe, wie sie traumverloren über die Kleiderhaufen am Boden und die vollen Aschenbecher steigt, das kleine Wohnzimmer durchquert, das Schlafzimmer betritt und sich dort aufs Bett setzt, weil Sessel und Stühle unter Papieren und Büchern begraben sind. Er wird vor ihr auf die Knie gegangen sein, um sie in den Arm zu nehmen, und eine Weile verharren sie so und versuchen, sich in dieser plötzlichen Nähe zurechtzufinden. Vielleicht ist meiner Nini wegen der aufgedrehten Heizung zu heiß geworden, und er hat ihr aus dem Mantel und den Stiefeln geholfen; sie haben sich tastend berührt, einander erkannt, ihre Seelen erforscht, um sicherzugehen, dass es kein Irrtum war. »Du riechst nach Tabak und Nachtisch. Und du bist glatt und schwarz wie ein Seehund«, wird meine
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