Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
und meine 2005-Tätowierung am Handgelenk. Ein Junge, der eine kurze Neonazi-Phase durchgemacht hatte, ehe er auf Methamphetamin umgeschwenkt war, trug ein Hakenkreuz als Brandzeichen auf dem rechten Arm, und ein anderer hatte sich »fuck« auf die Stirn tätowiert.
»Der ist wie geschaffen zum Geficktwerden, Nini. Man hat uns verboten, sein Tattoo zu erwähnen. Der Psychiater sagt, das könnte ihn traumatisieren.«
»Welcher ist es, Maya?«
»Der Lulatsch mit dem Vorhang bis über die Augen.«
Und was tut meine Nini? Geht hin und sagt ihm, das sei alles halb so schlimm, heutzutage gebe es Laser, die könnten ihm die Unflätigkeit von der Stirn radieren.
Manuel hat den kurzen Sommer zum Materialsammeln genutzt und will dann später, in den dunklen Winterstunden, sein Buch über die Magie von Chiloé abschließen. Mirscheint, wir vertragen uns sehr gut, auch wenn er mich bisweilen anknurrt. Ich ignoriere das. Ich weiß noch, als ich ihn kennenlernte, kam er mir schroff vor, aber in den Monaten unseres Zusammenlebens habe ich gemerkt, dass er zu denen gehört, die ein großes Herz haben und sich dafür schämen; er gibt sich keine Mühe, freundlich zu sein, und erschrickt, wenn ihn jemand liebgewinnt, deshalb hat er ein bisschen Angst vor mir. Zwei seiner früheren Bücher sind in Australien erschienen, großformatig und mit Farbfotografien, und das aktuelle soll, dank der Unterstützung des Kulturrats und verschiedener Reiseveranstalter, ähnlich prächtig werden. Der Verlag hat einen sehr namhaften Maler aus Santiago mit den Illustrationen betraut, der wird bei manchen der grausigen Mythengestalten ins Schwitzen geraten. Ich hoffe, Manuel gibt mir weiterhin etwas zu tun, damit ich mich für seine Gastfreundschaft revanchieren kann; sonst stehe ich auf ewig in seiner Schuld. Leider kann er überhaupt nicht delegieren, er überträgt mir die einfachsten Arbeiten und verplempert danach seine Zeit damit, alles noch mal zu überprüfen. Wahrscheinlich hält er mich für dämlich. Und dann hat er mir obendrein Geld geben müssen, weil ich doch nichts hatte, als ich hier ankam. Er versichert mir zwar, meine Großmutter habe ihm etwas überwiesen, aber das glaube ich ihm nicht, das wäre zu einfach für sie. Zu ihr würde eher passen, dass sie mir eine Schaufel schickt, damit ich einen Schatz hebe. Es gibt hier alte Piratenschätze, das weiß jedes Kind. In der Johannisnacht, am 24. Juni, zeigen Lichter an den Stränden an, wo ein Schatz vergraben ist. Leider bewegen sich die Lichter, das führt die Habgierigen in die Irre, und außerdem können sie auch der faule Zauber eines Hexers sein. Bis jetzt ist noch niemand reich geworden, der in der Johannisnacht gegraben hat.
Die Witterung ändert sich rasch, und Eduvigis hat mir eine dicke Mütze gestrickt. Die alte Doña Lucinda färbt ihrdie Wolle mit Pflanzen, Rinde und Früchten von der Insel. Sie ist eine Expertin darin und bringt die haltbarsten Farben zustande, mehrere Brauntöne, einen, der ins Rötliche geht, Grau, Schwarz und ein galliges Grün, das mir gut steht. Für sehr wenig Geld konnte ich mir warme Sachen und Turnschuhe kaufen, meine rosa Stiefel haben sich in der Nässe aufgelöst. Kleidung ist in Chile für jedermann erschwinglich: Überall werden Second-Hand-Sachen oder Restposten aus dem amerikanischen und chinesischen Schlussverkauf angeboten, und da ist manchmal was in meiner Größe dabei.
Ich habe Respekt vor Manuels Boot, der Cahuilla, bekommen, die äußerlich ein Seelenverkäufer, aber im Herzen eine Heldin ist. Mit ihr sind wir über den Golf von Ancud galoppiert, und nach dem Winter wollen wir weiter in den Süden, an den Buchten der Isla Grande vorbei durch den Golf von Corcovado. Die Cahuilla ist langsam, aber auf den ruhigen Gewässern hier verlässlich; die wirklich heftigen Stürme gibt es draußen auf dem offenen Pazifik. Auf den Inseln und in den abgelegenen Dörfern besuchen wir die alten Leute, die die Legenden kennen. Sie leben von ihrem Land, von ihrem Vieh und vom Fischen, in kleinen Weilern, die vom prahlerischen Fortschritt unberührt sind.
Manuel und ich brechen im Morgengrauen auf und versuchen je nach Entfernung vor Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause zu kommen, doch wenn die Fahrt über drei Stunden dauert, übernachten wir lieber, weil nur die Schiffe der Marine und dieCaleuche, das Geisterschiff, bei Nacht draußen auf See sind. Die alten Leute sagen, alles, was es auf der Erde gibt, findet sich auch unter Wasser. Es
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