Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
verlängern oder mich in ein anderes stecken. Ich nahm Angies Vorschlag so umgehend an, dass jeder, der sich seiner Autorität weniger sicher gewesen wäre, misstrauisch geworden wäre, und stellte mich ein auf meine lange überfällige Flucht.
In der zweiten Juniwoche, wenige Tage nach meinem Spaziergang mit Angie unter den Bäumen, steckte ein Schüler durch eine Zigarettenkippe versehentlich die Turnhallein Brand. Erst fraßen sich die Flammen durch eine Matte, dann schlugen sie hoch bis zur Decke, noch ehe der Alarm losging. Nichts ähnlich Dramatisches oder Vergnügliches war seit der Gründung des Internats hier passiert. Während sich die Lehrer und Gärtner mit den Schläuchen abmühten, nutzten die Jugendlichen die Gunst der Stunde, tobten und schrien herum, ließen den Dampf ab, der sich in Monaten der Selbstbespiegelung angestaut hatte, und als schließlich Feuerwehr und Polizei eintrafen, fanden sie bestätigt, dass es sich, wie allgemein vermutet, bei der Schule um eine Irrenanstalt handelte. Der Brand griff um sich, bedrohte die umliegenden Wälder, und die Feuerwehr forderte ein Flugzeug an. Das schürte den Taumel der Schüler weiter, alle rannten unter den Schwaden aus Chemieschaum herum und scherten sich nicht um die Anweisungen der Einsatzleitung.
Es war ein strahlender Morgen. Ehe die Qualmwolken den Himmel verdüsterten, war die Luft lau und rein gewesen, wie gemacht für meine Flucht. Doch zunächst musste ich die Vicuñas in Sicherheit bringen, an die in dem Durcheinander niemand einen Gedanken verschwendete, und ich verlor eine halbe Stunde, weil ich sie nicht vom Fleck bewegen konnte; vom Schreck über den Brandgeruch waren ihre Beine wie blockiert. Endlich kam ich auf die Idee, ihnen zwei angefeuchtete T-Shirts über den Kopf zu ziehen, und konnte sie damit bis zum Tennisplatz zerren, wo ich sie mit ihren Kapuzen überm Kopf festband. Danach ging ich in meinen Schlafraum, stopfte das Unerlässliche in meinen Rucksack – das Foto von meinem Pop, ein paar Sachen zum Anziehen, zwei Energieriegel und eine Flasche Wasser –, zog meine guten Laufschuhe an und rannte in den Wald. Das war keine Entscheidung Hals über Kopf, schließlich wartete ich schon ewig auf eine günstige Gelegenheit, trotzdem folgte ich keinem vernünftigen Plan, besaß weder einen Ausweis noch Geld oder eine Karte, und hatte nurdie verrückte Vorstellung im Kopf, ich könnte mich für ein paar Tage in Luft auflösen und meinem Vater einen Schreck einjagen, den er so schnell nicht vergaß.
Angie wartete achtundvierzig Stunden, bis sie meine Familie anrief, denn es war normal, dass ab und zu Schüler verschwanden; sie stellten sich an die Landstraße, ließen sich von jemandem die dreißig Kilometer in den nächsten Ort mitnehmen, testeten die Freiheit aus und kamen dann entweder selber zurück, weil sie nicht wussten, wohin, oder wurden von der Polizei gebracht. Fluchtversuche gehörten zum Alltag und galten vor allem bei Neuzugängen als Zeichen seelischer Gesundheit. Nur wer vollkommen antriebslos und depressiv war, fügte sich brav in die Gefangenschaft. Da die Feuerwehr ausschließen konnte, dass durch den Brand jemand zu Schaden gekommen war, machte man sich über mein Verschwinden keine ernsteren Sorgen, doch als am nächsten Morgen von der Aufregung des Feuers nur noch Asche übrig war, suchte man mich im Ort und durchkämmte mit Patrouillen den Wald. Da hatte ich bereits viele Stunden Vorsprung.
Ich weiß nicht, wie ich ohne Kompass in diesem Kiefernmeer einen Weg finden und es im Zickzack bis zur Interstate schaffen konnte. Ich hatte wohl einfach Glück. Stundenlang rannte ich nur, brach morgens auf, sah es Abend werden, dann Nacht. Ein paarmal blieb ich schweißüberströmt stehen, trank Wasser und aß meine Energieriegel, dann lief ich weiter, bis die Dunkelheit mich zwang, innezuhalten. Ich kauerte mich für die Nacht zwischen die Wurzeln eines Baumes und flehte zu meinem Pop, er möge die Bären fernhalten; es gab viele hier, auf der Suche nach Essbarem waren oft welche bis in den Garten des Internats gekommen. Wir beobachteten durchs Fenster, wie sie in den Mülltonnen wühlten, und keiner wagte es, sie zu vertreiben. Die Begegnungen mit meinem Pop, die flüchtig waren wie Seifenblasen, hatten in meiner Zeit im Internat stark gelitten. Unmittelbar nach seinem Tod war er mir öfter erschienen, daran kann kein Zweifel sein; ich sah ihn im Türrahmen stehen, sah ihn draußen auf dem Gehsteig gegenüber
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