Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
oder durchs Fenster eines Restaurants. Er ist unverkennbar, niemand sieht aus wie mein Pop, niemand tritt so elegant und bühnenreif auf mit Pfeife, Goldrandbrille und Borsalino. Aber dann begann dieser Absturz, die vielen Drogen und der Alkohol, der ständige Lärm, mein Kopf war umnebelt, und ich sah ihn nicht mehr, auch wenn ich glaube, dass er manchmal in meiner Nähe war; ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren. Meine Nini sagt, nur in einem leeren, stillen und sauberen Raum ohne Uhren könne man, wenn man zur Ruhe kommt, die Geister spüren. »Wie willst du deinen Pop hören, wenn du dauernd Kopfhörer trägst?«, sagte sie zu mir.
In dieser Nacht allein im Wald empfand ich dieselbe bodenlose Angst wie in den durchwachten Nächten meiner Kindheit, griffen mich dieselben Monster an wie im Haus meiner Großeltern. Nur die Umarmung und die Wärme eines anderen, der größer und stärker war als ich, konnten mir in den Schlaf helfen: mein Pop, ein Bombenspürhund. »Pop, Pop«, rief ich ihn mit rasendem Herzen. Ich kniff die Augen zu und presste mir die Hände auf die Ohren, um die gaukelnden Schatten nicht zu sehen und ihr bedrohliches Raunen nicht zu hören. Ich nickte ein, es muss sehr kurz gewesen sein, und schreckte dann hoch, weil ein Lichtschein zwischen die Baumstämme fiel. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wo ich war, und begriff, dass es die Scheinwerfer eines Autos gewesen sein mussten, die Straße also nicht weit sein konnte; ich sprang auf, schrie vor Erleichterung und rannte los.
Die Schule hat vor einigen Wochen begonnen, und ich arbeite jetzt als Lehrerin, allerdings ohne Gehalt. Ich bezahleManuel in einem komplizierten Tauschgeschäft dafür, dass ich bei ihm wohnen darf. Für meine Arbeit in der Schule gibt Tía Blanca mir kein Geld, sondern sie bezahlt Manuel mit Brennholz, Schreibpapier, Benzin, Licor de Oro und ein paar Annehmlichkeiten, bringt ihm zum Beispiel Filme vorbei, die im Dorf nicht gezeigt werden, weil sie ohne Untertitel oder »garstig« sind. Nicht Blanca sortiert die Filme aus, sondern ein Nachbarschaftskomitee, das alle Hollywood-Filme mit vielen Sexszenen »garstig« findet. Chilenische Filme werden mit diesem Adjektiv nie belegt, dort wälzen sich die Schauspieler oft nackt und stöhnend herum, ohne dass das Publikum auf der Insel mit der Wimper zuckt.
Tauschgeschäfte sind ein wichtiger Pfeiler der Wirtschaft auf der Insel, man tauscht Fisch gegen Kartoffeln, Brot gegen Holz, Hühner gegen Kaninchen, und viele Handreichungen werden durch Waren vergolten. Den milchgesichtigen Arzt mit dem Boot muss man nicht bezahlen, weil er für den staatlichen Gesundheitsdienst arbeitet, aber seine Patienten geben ihm trotzdem Hühner oder Wollsachen. Niemand sagt, was etwas kostet, alle kennen jedoch den genauen Wert und führen im Kopf Buch. Das funktioniert reibungslos, man verliert kein Wort über Schulden oder darüber, was man gibt oder bekommt. Wer nicht hier geboren ist, wird dieses Tauschen nie in allen Verzweigungen und Feinheiten durchschauen können, aber ich habe wenigstens gelernt, mich für die unzähligen Tassen Mate und Kräutertee zu revanchieren, die man mir im Dorf anbietet. Erst wusste ich nicht, wie ich das anstellen soll, denn ich bin nie ärmer gewesen als jetzt, nicht einmal in meiner Zeit auf der Straße, doch dann habe ich gemerkt, dass die Leute froh sind, wenn ich mich um ihre Kinder kümmere und Doña Lucinda beim Färben und Aufwickeln der Wolle helfe. Doña Lucinda ist so alt, dass schon niemand mehr weiß, aus welcher Familie sie stammt, und alle reihum nachihr sehen; sie ist die Ururgroßmutter der Insel und nach wie vor rüstig, besingt die Kartoffeln und verkauft ihre Wolle.
Man muss einen Gefallen nicht direkt vergelten, man kann auch über Bande spielen, wie Tía Blanca und Manuel das bei meiner Mithilfe in der Schule tun. Manchmal wird auch über zwei oder drei Banden gespielt: Liliana Treviño besorgt Glucosamin gegen die Gelenkschmerzen von Eduvigis Corrales, die strickt Wollsocken für Manuel, der tauscht seine gelesenen Ausgaben des National Geographic in der Buchhandlung in Castro gegen Frauenzeitschriften ein, die er Liliana Treviño gibt, wenn sie die Medizin für Eduvigis vorbeibringt, womit der Kreis sich schließt, und alle sind froh. Wobei Eduvigis das Glucosamin nur widerstrebend nimmt, um die Krankenschwester nicht zu kränken, da in ihren Augen nur Abreibungen mit Brennnesseln und Bienenstiche wirksam gegen
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