Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
das von Bedeutung sein mag, tappe aber weitgehend im Dunkeln, habe kaum Anhaltspunkte und keine Gewissheiten. Angefangen hat alles damit, dass ich etwas über den ersten Mann meiner Nini herausfinden wollte, Felipe Vidal, dabei bin ich über den Putsch von 1973 gestolpert, der Manuels Leben über den Haufen geworfen hat. Ich fand einige Artikel von Felipe Vidal über das Kuba der sechziger Jahre – offenbar war er einer von wenigen chilenischen Journalisten, die über die Revolution berichteten – und mehrere Reportagen aus verschiedenen Teilen der Welt; er ist wohl viel rumgekommen. Einige Monate nach dem Putsch verschwand er, was mit ihm passiert ist, habe ich im Internet nicht gefunden. Nur dass er verheiratet war und einen Sohn hatte, aber die Namen von Frau und Kind tauchen nirgends auf. Ich fragteManuel, wo er Felipe Vidal eigentlich kennengelernt hatte, und er entgegnete kurz angebunden, er wolle nicht darüber reden, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass die Geschichte der beiden irgendwie zusammenhängt.
Viele Chilenen wollten nicht wahrhaben, dass unter der Militärdiktatur Gräueltaten begangen wurden, bis in den neunziger Jahren erdrückende Beweise ans Licht kamen. Blanca sagt, inzwischen könne niemand mehr leugnen, was geschehen ist, doch würden einige es weiterhin rechtfertigen. Man darf das Thema vor ihrem Vater und dem Rest der Familie Schnake nicht anschneiden, für sie ist die Vergangenheit begraben, das Militär hat das Land vor dem Kommunismus bewahrt, für Ordnung gesorgt, die Subversiven beseitigt, die freie Marktwirtschaft eingeführt und damit den Wohlstand gebracht, weil das die Chilenen, die von Natur aus faul sind, zum Arbeiten zwang. Gräueltaten? Sind im Krieg unvermeidlich, und das war ein Krieg gegen den Kommunismus.
Was Manuel wohl träumt heut Nacht? Ich spürte wieder seine schlimmen Traumgespinste, die mich zuvor schon erschreckt hatten. Schließlich stand ich auf und tastete mich an den Wänden entlang in sein Zimmer, in das eine Andeutung von Licht aus dem Ofen fiel, genug, um die Umrisse der Möbel zu erahnen. Ich war nie zuvor in diesem Raum gewesen. Wir haben eng zusammengelebt, er hat mir beigestanden, als ich den üblen Durchfall hatte – was könnte intimer sein? –, wir begegnen uns im Bad, er hat mich sogar schon nackt gesehen, wenn ich unbedacht aus der Dusche kam, aber sein Schlafzimmer ist für mich tabu, dort gehen nur der Dusselkater und der Literatenkater wie selbstverständlich ein und aus. Warum habe ich das getan? Damit er aufwacht und sich nicht mehr quält, ich meiner Schlaflosigkeit ein Schnippchen schlagen und bei ihm schlafen kann. Sonst nichts, aber ich wusste, ich spiele mit dem Feuer, erist ein Mann, ich eine Frau, auch wenn er zweiundfünfzig Jahre älter ist als ich.
Ich sehe Manuel gern an, trage gern seine alte Jacke, rieche gern seine Seife im Bad, höre gern seine Stimme. Ich mag seine spöttische Art, seine Selbstsicherheit, seine stille Gesellschaft, mag es, dass er keine Ahnung hat, wie gern die Leute ihn haben. Ich fühle mich nicht zu ihm hingezogen, nichts dergleichen, aber ich habe ihn so schrecklich lieb, dafür gibt es gar keine Worte. Ich habe ja nicht viele Menschen zum Liebhaben: meine Nini, meinen Vater, Schneewittchen, zwei, die ich in Las Vegas gelassen habe, und niemanden in Oregon, abgesehen von den Vicuñas, und dann ein paar hier auf der Insel, die ich fast schon zu lieb habe. Ich ging zu Manuel, gab mir keine Mühe, leise zu sein, schlüpfte in sein Bett, umarmte ihn von hinten, schob meine Füße zwischen seine und vergrub meine Nase in seinem Nacken. Er rührte sich nicht, aber ich wusste, dass er aufgewacht war, weil er zu einem Marmorblock versteinerte. »Entspann dich, Mann, ich will bloß mit dir atmen«, war alles, was mir zu sagen einfiel. Also lagen wir da, ein altes Ehepaar, in die Wärme der Wolldecken und in unsere Wärme gehüllt, und atmeten. Und ich schlief tief und fest ein wie damals im Bett zwischen meinen beiden Großeltern.
Manuel weckte mich um acht mit einer Tasse Kaffee und Toastbrot. Das Gewitter hatte sich verzogen, und die Luft roch frisch gewaschen, nach nassem Holz und Salz. Die Schrecken der letzten Nacht schienen im Morgenlicht, das ins Haus flutete, wie ein böser Traum. Manuel war rasiert, hatte feuchtes Haar und trug seine üblichen Sachen: ausgebeulte Hose, Hemd mit Stehkragen, Strickjacke mit fadenscheinigen Ellbogen. Er reichte mir das Tablett und setzte sich neben
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