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Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)

Titel: Mayas Tagebuch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Meine Flucht aus dem Internat lag zwei Tage zurück, aber ich wusste nicht, ob Angie ihr mein Verschwinden schon mitgeteilt hatte. Es läutete viermal, dann sagte das Band, ich solle eine Nachricht hinterlassen; da fiel mir wieder ein, dass meine Großmutter donnerstags Nachtdienst für die Hospizstiftung macht, um sich für die Hilfe zu revanchieren, die sie bekam, als mein Pop im Sterben lag. Ich legte auf; bis zum nächsten Morgen würde ich niemanden erreichen.
    Ich hatte an dem Tag sehr zeitig gefrühstückt und mittags mit Fedgewick nichts essen wollen, spürte jetzt ein Loch im Bauch, wollte mein Kleingeld aber zum Telefonieren aufheben. Ich ging los, weg von den erleuchteten Casinos, von den vielen Leuten, dem Rummelplatzblinken der Lichter, dem wasserfallartigen Tosen des Verkehrs. Die gleißend glitzernde Stadt wich einer anderen, stillen und düsteren. Ich wanderte ziellos und ohne Vorstellung, fand in einer verschlafenen Straße eine Bank an einer überdachten Bushaltestelle und lehnte mich dort zum Ausruhen an meinen Rucksack. Erschöpft schlief ich ein.
    Wenig später fasste mich ein Unbekannter an der Schulter und weckte mich in einem Tonfall, mit dem man Pferde zähmt: »Soll ich dich nach Hause fahren, Dornröschen?« Er war klein, sehr dünn, hatte einen krummen Rücken, ein Gesicht wie ein Hase und strohfarbenes, fettiges Haar. »Nach Hause?«, fragte ich schlaftrunken. Er streckte mir die Hand hin, lächelte mich mit fleckigen Zähnen an und sagte mir seinen Namen: Brandon Leeman.
    Bei dieser ersten Begegnung war Brandon Leeman von Kopf bis Fuß khakifarben angezogen, trug Hemd und Hose mit unzähligen Taschen und klobige Schuhe mit Gummisohle. Das gab ihm die beruhigende Ausstrahlung eines Parkrangers. Die langen Ärmel verbargen seine martialischen Tattoos, und auch die blau unterlaufenen Einstichstellen sollte ich erst später zu Gesicht bekommen. Leeman hatte zwei Gefängnisstrafen abgesessen und wurde in mehreren Bundesstaaten von der Polizei gesucht, fühlte sich in Las Vegas aber sicher und hatte hier vorübergehend einen Unterschlupf gefunden. Er war Dieb, Dealer und heroinabhängig und nicht der Einzige von seinem Schlag in der Stadt. Aus Vorsicht und Gewohnheit trug er eine Waffe, neigte aber nicht zu Gewalttätigkeiten und konnte, wenn nötig, auf zwei Schläger zurückgreifen, auf Joe Martin aus Kansas und auf den Chinesen, einen pockennarbigenPhilippino, den er im Knast kennengelernt hatte. Brandon war achtunddreißig, sah aber aus wie fünfzig. An diesem Donnerstag kam er gerade aus der Sauna, die zu den wenigen Vergnügen gehörte, die er sich gönnte, nicht weil er hart gegen sich gewesen wäre, sondern weil ihm in seinem Zustand schon alles gleichgültig war außer seinem Stoff, seinem Schnee, seinem Smack, seinem Hero. Er hatte sich gerade einen Schuss gesetzt und fühlte sich wach und gut aufgelegt, um seine nächtliche Runde zu beginnen.
    Leeman saß in seinem Auto, einem düsteren Geländewagen, als er mich schlafend auf der Bank an der Straße entdeckte. Wie er mir später anvertraute, sagte ihm seine Menschenkenntnis, die sich auf seinem Arbeitsgebiet schon oft als nützlich erwiesen hatte, er könnte da einen Rohdiamanten vor sich haben. Er fuhr eine Runde um den Block, noch einmal langsam an mir vorbei und sah seinen ersten Eindruck bestätigt. Er schätzte mich auf ungefähr fünfzehn, eigentlich zu jung für seine Zwecke, durfte aber in seiner Lage keine überzogenen Ansprüche stellen, denn er suchte schon seit Monaten nach jemandem wie mir. Fünfzig Meter weiter hielt er an, stieg aus, befahl seinen Handlangern zu verschwinden, bis er sie riefe, und ging zu der Bushaltestelle.
    »Ich habe noch nichts zu Abend gegessen. Drei Straßen weiter ist ein McDonald’s. Willst du mitkommen? Ich lade dich ein«, bot er mir an.
    Ich überschlug rasch, was zu tun war. Die Begegnung mit Fedgewick war mir eine Warnung, aber vor diesem Hänfling in Entdeckerkluft musste man sich nicht fürchten. »Gehen wir?«, sagte er noch einmal. Ich folgte ihm erst etwas zögerlich, doch als wir um die Ecke bogen und weiter vorn das beleuchtete McDonald’s-Schild auftauchte, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen; ich hatte Hunger. Wir plauderten im Gehen, und ich erzählte ihm schließlich, ich sei gerade erst in der Stadt angekommen und auf der Durchreise und wolle nach Kalifornien zurück, sobald ich meine Großmutter erreicht hätte und sie mir Geld schickte.
    »Ich würde dir ja mein

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