Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Patricia Verdugo, eine unerschrockene Journalistin, vor einigen Jahren über diese grausamen Ereignisse geschrieben hat. »Ich weiß nicht, ob du das verstehst, Maya, du bist zu jung und noch dazu Ausländerin«, sagte er. »Unterschätzen Sie mich nicht, Compañero«, sagte ich. Er zuckte kurz, weil der Begriff, unter Allende en vogue, von den Militärs verboten wurde und heute von niemandem mehr benutzt wird. Das weiß ich aus dem Netz.
Der Putsch liegt jetzt sechsunddreißig Jahre zurück, und seit zwanzig Jahren wird das Land wieder demokratisch regiert, aber es sind Narben geblieben und in manchen Fällen auch offene Wunden. Man redet wenig über die Diktatur, wer unter ihr gelitten hat, möchte sie vergessen, und für die Jüngeren ist sie Geschichte und lange vorbei, aber ich kann alles nachlesen, was ich wissen will, es gibt unzähligeSeiten im Netz, und in der Buchhandlung in Castro, in der Manuel einkauft, habe ich eine Menge Bücher, Zeitschriften, Dokumentarfilme und Fotobände gesehen. Über die Militärzeit wird an den Universitäten geforscht, sie wird aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet, sich öffentlich dazu zu äußern gilt jedoch als anstößig. Durch Chile geht noch immer ein Riss. Der Vater der Präsidentin Michelle Bachelet war Brigadegeneral der Luftwaffe und starb durch die Hand seiner eigenen Waffenbrüder, weil er sich der Erhebung nicht anschließen wollte, danach wurden sie und ihre Mutter festgenommen, gefoltert und ins Exil gezwungen, aber sie redet nicht darüber. Blanca sagt, dieser Teil der chilenischen Vergangenheit sei wie der Schlick am Grund eines Sees, man solle ihn nicht aufwühlen, das trübe nur das Wasser.
Die Einzige, mit der ich darüber sprechen kann, ist Liliana Treviño, die Krankenschwester, die mir bei meinen Nachforschungen helfen will. Sie hat mir angeboten, mich zu Pater Luciano Lyon zu begleiten, der Essays und etliche Artikel über die Unterdrückung während der Diktatur geschrieben hat. Wir haben vor, ihn ohne Manuel zu besuchen, damit wir offen reden können.
Schweigen. Dieses Haus aus Zypressenholz kennt lange Phasen des Schweigens. Ich habe vier Monate gebraucht, um mich auf Manuels introvertierte Art einzustellen. Dass ich hier bin, muss einem Eigenbrötler wie ihm auf den Wecker gehen, noch dazu in einem Haus ohne Türen, wo die Privatsphäre eine Frage der Rücksichtnahme ist. Auf seine Weise ist er mir gegenüber aufmerksam: Zwar übersieht er mich oft oder antwortet mir kurz angebunden, aber dann wärmt er mir die Handtücher am Ofen an, wenn er davon ausgeht, dass ich duschen will, bringt mir mein Glas Milch ans Bett, umsorgt mich. Neulich hat er zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, die Fassung verloren, weil ich mit zweiFischern hinausgefahren war, wir von einem Wetterumschwung überrascht wurden, Regen und schwere See, und sehr spät und nass bis auf die Haut zurückkamen. Manuel wartete mit Fákin am Anleger und hatte einen der Polizisten dabei, Laurencio Cárcamo, der bereits über Funk auf der Isla Grande ein Boot der Marine angefordert hatte, um uns zu suchen. »Was soll ich deiner Großmutter sagen, wenn du hier ertrinkst?«, schrie Manuel mich zornig an, kaum dass ich festen Boden unter den Füßen hatte. »Beruhige dich, Mann. Ich kann allein auf mich aufpassen«, sagte ich. »Ja, sicher! Deshalb bist du ja hier! Weil du so gut allein auf dich aufpassen kannst!«
Im Jeep von Laurencio Cárcamo, der so freundlich war, uns nach Hause zu fahren, nahm ich Manuels Hand und erklärte ihm, dass wir bei gutem Wetter und mit Einwilligung der Küstenwacht rausgefahren waren, kein Mensch konnte mit diesem plötzlichen Wetterumschwung rechnen. Binnen Minuten hatten sich Himmel und Meer mausgrau gefärbt, und wir mussten die Netze einholen. Zwei Stunden waren wir draußen ohne Orientierung gewesen, es war dunkel geworden, und wir hatten keinen Satellitenempfang, sonst hätte ich über Handy Bescheid sagen können; es war bloß ungemütlich, nicht gefährlich, das Boot ist verlässlich, und die beiden Fischer kennen die Gewässer hier. Manuel würdigte mich keines Blickes und sagte nichts dazu, aber er zog auch seine Hand nicht zurück.
Eduvigis hatte uns Lachs mit Ofenkartoffeln gemacht, was bei meinem Bärenhunger ein Segen war, und das Ritual, zusammen am Tisch zu sitzen, und die vertraute gemeinsame Routine vertrieben Manuels schlechte Laune. Nach dem Essen setzten wir uns auf das verschlissene Sofa, er zum Lesen, ich zum Schreiben,
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