mayday mayday ... eastern wings 610
glaubte es nicht. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendwelche Steuertypen, die sich um ihre Routinefragen kümmerten. Und die Steuer gehörte schließlich zum Geschäft, auch wenn Lidell das nur widerstrebend einsehen wollte. Aber vielleicht hatte er recht? Vielleicht sah er nicht nur Gespenster, obwohl er seit vier oder fünf Jahren eindeutig vom Verfolgungswahn geplagt war. Doch wenn es diesmal konkrete Anhaltspunkte gab?
»Was hat die ganze Aktion ausgelöst, Charles? Was meinen Sie? Wie bekamen Sie überhaupt Nachricht davon?«
»Wie? Gestern nacht rief Forster an. Ein alter Kumpel aus dem FAA. Forster steht natürlich auf meiner Gehaltsliste, Tony. Und weißt du, was er sagt? Ihr seid im Focus. Focus, das hatte ich und Andrew Forster vereinbart, Focus bedeutet FBI.«
Antonio hielt den Atem an. Blitzschnell versuchte er die Konsequenzen auszuloten, die dies für ihn selbst haben konnte. Es gelang ihm nicht. Es waren zu viele.
Lidell warf ihm einen kurzen Blick zu, nahm endlich die Zigarre aus den Lippen und warf sie auf die Straße.
»Da wäre natürlich noch eine Frage zu überlegen, Tony. Wie kommt man in einen Focus? – Interessante Frage, könnte man sagen. Was macht dich zur Zielscheibe?«
Antonio schwieg.
»Von unseren Internas weiß keiner was. Zumindest keiner im Laden. Nicht einer. Wir haben das oft genug kontrolliert. Wochen-, nein, monatelang habe ich die Leute abgehört. Sagte mir: Laß sie stänkern, macht nichts, stänkern gehört zur seelischen Hygiene. Hauptsache sie wissen nichts.«
Antonio nickte.
»Sie wissen auch nichts, Partner. Es gibt nur uns beide.«
Pause. Und dann scharf wie ein Messerschnitt: »Du und ich. Nun, ich zum Beispiel habe den Vorzug, daß meine Frau in Maine lebt. Wollte sie so. Soll sie auch. Deine Frau aber lebt hier …«
Wieder sah Lidell in den Rückspiegel. Nun nahm er den Blick wieder geradeaus und fuhr etwas schneller.
»Was ist mit ihr, Tony? Was ist mit Maria?«
»Wir haben uns getrennt«, sagte Antonio. »Das heißt, sie hat sich von mir getrennt.«
»Wie schön. Und mir hat sie gekündigt. Schon ein Sonderfall, deine Maria. Bemerkenswert. Schon dadurch ein Sonderfall, daß sie sich trotz ihrer Kündigung bis zur letzten Arbeitsstunde auszahlen lassen wollte. Was meinst du?«
»Sie wissen doch, Charles, daß ich keine Einwirkungsmöglichkeiten auf Maria habe.«
»Ja, das weiß ich. Und das ist auch genau der Punkt, auf den ich hinauswill. Du hast sie nie gehabt, deine ›Einwirkungsmöglichkeiten‹. Und erspar es mir, die Gründe zu nennen. Es kotzt mich an. Maria war immer stärker als du. Und du weißt das ganz genau. Und du weißt auch so gut wie ich, daß sie gefährlich werden kann. Sehr gefährlich.«
»Aber ich hab' doch nie …«
»So? Du hast nie? Sie ist clever. Sie braucht keine Storys. Verdammt clever ist sie sogar. Und sie hat genug mitbekommen, um sich einen Reim darauf zu machen. Und sicher gab's auch die eine oder andere Bemerkung, die du in ihrer Gegenwart fallen ließt. Komm, wir brauchen uns nichts vorzumachen. Das ist nicht die Stunde, um sich in die Tasche zu lügen, bei Gott nicht.«
Wieder der Blick zurück. Der Wagen fuhr weich, das Geräusch unter der Motorhaube war fast unhörbar. Nur ein leises Vibrieren.
Antonio starrte geradeaus. Ob unglaublich oder ungeheuerlich – er wußte, was jetzt kommen würde.
»Sie und dieser verpißte Deutsche, der Lufthansa-Typ, Tony. Beiden trau' ich nicht. Ich habe nachchecken lassen, es stimmt, er ist bei der LH. Ortegas Leute haben sogar seine Wohnung auseinandergenommen und nichts Besonderes gefunden. Aber trotzdem, ich trau' ihm nicht. Kein Risiko, Tony. Der Deutsche. Und sie. In dieser Reihenfolge. Sie auch, jawohl!«
Antonio Rosario hatte den Eindruck, als würden Dinge und Lebewesen alle Farbe verlieren: Verkehr, Passanten, die Reklamen, wie ausgelaugt. Grau wurden sie, wie die Bilder eines billigen Schwarzweißfernsehers. Er spürte, wie ihm der Schweiß im Nacken ausbrach.
»Tut mir leid«, hörte er Lidell, »tut mir wirklich leid, Tony. Aber das geht nun mal nicht anders. Es ist die einzige Lösung. Außerdem, ihr seid nicht seit kurzem, ihr seid schon lange auseinander.«
»Und die Kinder …«
»Den Kindern geschieht nichts. Das versprech' ich dir. Die bleiben draußen.«
Die bleiben draußen?
Es war für ihn, als stehe er an der vordersten Kante einer tiefen Schlucht, während hinter ihm irgendein Typ den Baseballschläger hob, um ihn ihm ins Kreuz zu stoßen.
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