mayday mayday ... eastern wings 610
hinkenden Typ, der jedes Wort einmal durchkaute, ehe er es entließ.
»Also?«
»Erinnerst du dich an die Pinie?«
Brückner nickte.
»Das war die unglaublichste Pinie, die mir je im Leben untergekommen ist. Die muß sich vor einem Jahr ein Baby zugelegt haben, einen Ableger. Hab' mich da reingeschmissen. Zwischen Baby und Mama. War wie im Theater. Na ja, vielleicht kein gutes Stück, aber spannend.«
»Wie schön für dich.«
Kevin grinste. »Okay. Aber Arbeit hast du ihnen gemacht. Nachdem sie dir das Licht ausgeknipst haben, mußten sie dich nämlich bis zu ihrem Streifenwagen rübertragen.«
Brückner hatte keine Lust auf solche Einzelheiten. Er griff nun doch nach Brunos halbvollem Bierglas, das auf dem Tisch herumstand, und trank es aus. »Und wie kam es, daß die ausgerechnet in dem Augenblick auftauchten, als wir rein wollten?«
»Das fragen wir uns die ganze Zeit«, sagte Bruno.
Kevin schwieg.
»Da gibt es nur zwei Möglichkeiten«, überlegte Bruno. »Entweder war's reiner Zufall, daß sie so schnell aufgetaucht sind, oder …«
»Oder was?«
»Oder sie haben den Auftrag, alle zehn Minuten um Lidells Bude herumzukurven, weil sie auf seiner Gehaltsliste stehen.«
Der Wind war weich geworden, wie eine zärtliche, angenehme Berührung. Der Mond lasierte das Wasser des Atlantiks mit seinem blauen Glanz, als Brückner den Maine Highway hinabglitt, um an der 72. Straße die Rechtskurve nach Coral Gables zu nehmen. An das Zucken in seinem Kiefer hatte er sich inzwischen gewöhnt. Am liebsten wäre er einfach weitergefahren, die US One entlang, über diese ganze bescheuerte, gottverfluchte Floridahalbinsel bis hinauf nach Jacksonville oder quer durch die Everglades , irgendwohin – einfach nur weg!
Doch das ging nicht. Und er wußte es. Die Zeit der pathetischen Vorsätze, die alle mit dem Satz begannen: »Keine Sorge, Anja, du wirst schon sehen, wir schaffen das!« war vorüber. Vorsätze wurden nicht länger gebraucht. Die Wirklichkeit – und auch Anja gehörte dazu –, sie war so unwirklich geworden wie die Gegenwart. Fragen zu stellen war überflüssig, er wußte Anjas Antworten im selben Herzschlag. Und daß er sich allein fühlte … Er hatte sich oft genug allein gefühlt, als sie noch lebte. Es war die Sorte von Einsamkeit gewesen, die zu jeder Beziehung gehört, zu jeder guten Beziehung jedenfalls, weil sie etwas akzeptiert, was ohnehin nicht zu ändern ist.
Er parkte Johnnys VW-Kombi neben der Garage von Mr. Murray, stieß Murrays Gartentür auf und ging langsam über den Plattenweg auf das Haus zu. Daß er auf seine Schritte nicht recht acht gab, daß er weder Haus noch Garten richtig wahrnahm, lag nicht an der Erschöpfung – er war einfach irgendwoanders. Und so fiel ihm auch erst auf, daß er die Haustür nur anzustoßen brauchte, um einzutreten, als er bereits im Korridor stand.
Er blieb stehen und überlegte. Aber du hast doch abgeschlossen?
Er lauschte. Irgend etwas störte ihn. Im Vorraum gab es diese grauenhafte, mit roten Kitschrosen und krummen Dackelbeinen versehene Barockkopie eines Schranks, in dem Mr. Murray sein Angelzeug aufzubewahren pflegte. Es gab nochmal Rosen. Die gehörten zu einer gleichfalls mit Dackelbeinen ausgestatteten Kommode.
Brückner schaltete das Licht an.
Er konnte es nicht glauben: Die Schubladen der Kommode waren herausgerissen, ihr Inhalt – Papiere, ein Mobiltelefon, Bürsten, Schals, Schuhputzzeug, Fotoalben, Bücher und Prospekte –, alles lag wild durcheinander auf dem Parkett verstreut. In der anderen Ecke bildete Murrays Angelzeug einen wirren Haufen. Auch im Wohnzimmer sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen: heruntergerissene Diwankissen, der Fernseher umgekippt, nicht einmal der Plattenschrank war verschont geblieben. Die Compaktdiscs bildeten einen phantastisch schimmernden Silberhaufen zwischen ihren aufgerissenen Behältern.
»Sie können schon jemand im Haus unterbringen«, hatte Mr. Murray Bruno angeboten, »aber nur Leute, die Sie kennen, nur Leute aus Ihrer Familie.«
Das würde er wohl nie mehr sagen.
Brückner rührte sich nicht. An seinem Handgelenk fühlte er einen scharfen, heißen Schmerz. Es war die Stelle, an der die Handschelle die Haut aufgescheuert hatte. Er schüttelte langsam den Kopf. Im Grunde gab es nicht nur einen Brückner, der den Kopf schüttelte, nun waren es zwei: Der eine, der hysterisch losbrüllen wollte, der andere, der nichts fühlte als eine absurde Form von Heiterkeit und im Grunde nichts
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