Mayday
Barbara und ich sind fast fertig. Wir kommen in einer Minute hinauf. Tatsächlich hatte das noch fast fünf Minuten gedauert. Wären sie schon nach einer Minute hinaufgefahren … Barbara war ihrem Schicksal für diese Verzögerung dankbar. Sie ließ Mary Santoro knien und wollte weitergehen.
Jemand tauchte hinter ihr auf und hielt sie an der Schulter fest. Yoshiro erstarrte und trat langsam zur Seite. Ein etwa 18jähriger junger Mann stolperte an ihr vorbei. Der Mann in dem Sessel, an dem sie lehnte, bekam ihr rechtes Handgelenk zu fassen. Sie machte sich behutsam frei, ging langsam weiter und spürte, daß ihr Herz bis zum Hals schlug.
Yoshiro näherte sich dem Bereich zwischen den beiden gähnenden Löchern, wechselte in den linken Gang über und kam dort langsamer voran. Passagiere krochen und stolperten über ein Gewirr aus Wrackteilen und gräßlich verstümmelten Leichen. Barbara verfolgte entsetzt und fasziniert zugleich, wie eine Frau auf das große Loch zuwankte, sich kurz an den herabhängenden Drähten festhielt und dann ins Leere hinaustrat. Sie sah die Frau an den Kabinenfenstern vorbeifliegen.
Die Japanerin war zu verblüfft, um auch nur aufzuschreien. Hatte diese Frau Selbstmord begangen? Das bezweifelte sie. Dafür schienen die Passagiere nicht mehr bewußt genug zu sein. Yoshiros Verdacht bestätigte sich, als jetzt ein alter Mann auf das Loch im Flugzeugrumpf zukroch. Als er sich ihm näherte, ohne die drohende Gefahr zu begreifen, wurde er vom Luftstrom erfaßt und nach draußen gerissen. Sie wandte sich abrupt ab und sah den Gang hinunter nach vorn, wo die Sicherheit des Cockpits lockte. Barbara wußte, daß sie sich beeilen mußte.
Yoshiro war mit wenigen Schritten an der Stelle, wo der mit Wrackteilen übersäte Teil des Ganges begann. Sie stieg vorsichtig über die auf dem Boden liegenden, verkrümmten Gestalten hinweg. Kaum 15 Meter vor ihr ragte der blaue Küchen- und Sanitärblock auf, hinter dem die Wendeltreppe begann.
Menschen rempelten sie an und stießen sie grob zur Seite, wenn sie nicht rechtzeitig auswich. Dabei stießen sie tierische Laute aus. Ihre Stimmen vereinigten sich aus irgendeinem Grund plötzlich zu einem schrillen Crescendo quietschender, heulender, kreischender und blökender Stimmen, das ebenso rasch wieder abflaute. Wenig später löste irgend etwas ein neuerliches Anschwellen aus, und der Zyklus begann wieder. Barbara spürte, daß ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Sie zwang sich dazu, die Gesichter der Männer und Frauen um sie herum zu betrachten, um zu erkennen, ob sie sich irgendwie untereinander verständigten, damit sie sich entsprechend verhalten konnte. Aber die meisten Gesichter waren völlig ausdruckslos. Ohne Emotionen, ohne Interesse, ohne Menschlichkeit und letztendlich ohne Seele. Der Lebensfunke war so sicher erloschen, als hätten sie sich alle an den Teufel verkauft. Yoshiro hätte es sich eher zugetraut, den Gesichtsausdruck eines Affen zu deuten, als zu beurteilen, was hinter den Fratzen dieser hohläugigen, sabbernden ehemaligen Menschen vorging.
Einige wenige schienen sich jedoch einen Rest Intelligenz bewahrt zu haben. Zu ihnen gehörte ein junger Mann, der drüben im rechten Gang mit ihr Schritt gehalten hatte. Jetzt stand er in der Nähe des großen Loches. Barbara sah, wie er einen Blick ins Freie warf, von dem Loch zurücktrat und sich mit Gewalt einen Weg durch die Leute bahnte, die zwischen ihm und dem linken Gang standen. Er schien genau auf sie zuzukommen.
Barbara Yoshiro rannte nach vorn. Sie stolperte über Tote und die aus ihren Verankerungen gerissenen Sitze, konnte den Sturz nicht abfangen und fiel hin. Der Boden zwischen den beiden Löchern war beschädigt und hing leicht durch. Ihr Arm verschwand bis zum Ellbogen in einem Spalt, den der Teppichboden verdeckte. Barbara riß ihn zurück und schnitt sich dabei das Handgelenk an einer scharfen Metallkante auf. Die Wunde blutete heftig. Yoshiro kam schwankend auf die Beine. Der junge Mann in dem blauen Blazer, der sie verfolgt hatte, streckte die Hände nach ihr aus.
George Yates war normalerweise ein freundlicher, sportlicher junger Mann, der als Reiter, Surfer, Taucher und Tennisspieler durchtrainiert war. Aus verschiedenen physiologischen Gründen hatte der schlagartige Druckabfall seine motorischen Körperfunktionen nur unwesentlich beeinträchtigt. Aber der Sauerstoffmangel hatte den in 24 Lebensjahren kultivierten und zivilisierten Teil seiner Psyche
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