Mayday
ausgelöscht, den Yates als seinÜber-Ich bezeichnet hätte. Auch sein Ich war beeinträchtigt, aber es funktionierte noch teilweise. So waren das Genußzentrum seines Gehirns, seine impulsiven Triebe, seine instinktive Energie und die niedrigsten Regungen seiner Psyche beherrschend geworden.
Ursprünglich hatten ihn nur Barbara Yoshiros Bewegungen auf sie aufmerksam gemacht. Als er sich darauf konzentriert hatte, hatten die ersten vagen Eindrücke sich zu einer bestimmten Vorstellung verdichtet. Dort bewegte sich eine Frau.
Bruchstückhafte Erinnerungen drängten an die Oberfläche seines Bewußtseins: Yates erkannte in diesem Wesen etwas, das er begehrte. Obwohl er kaum noch etwas davon wußte, hatte er in den letzten Augenblicken vor der Katastrophe von den Frauen in hellblauen Uniformen geträumt. Er erinnerte sich schemenhaft an die Frau mit den langen schwarzen Haaren, die ihn erregt hatte. Sie erregte ihn auch jetzt. Er griff nach ihr.
Barbara Yoshiro wich seinen Händen aus. Sie hastete weiter, stolperte, rappelte sich wieder auf und sah die blaue Wand des vorderen Küchen- und Sanitärblocks vor sich. Dann schob sie sich mit dem Rücken zur Wand nach vorn zu der Ecke, hinter der die Wendeltreppe lag.
Einzelne Gestalten kamen mit ausgestreckten Händen auf Barbara zu. Sie schlug einer Frau mit der Faust ins Gesicht, so daß die anderen in der Gruppe hinter ihr zurücktaumelten.
Barbara erkannte sofort, daß sie das nicht hätte tun sollen.
Aus allen Teilen der Maschine näherten sich Passagiere diesem neuen Brennpunkt des Geschehens. Manche kamen aus Neugier, andere wurden mitgezogen, ohne es recht zu merken, und wieder andere wollten einer vermeintlichen Gefahr – Barbara Yoshiro – entgegentreten.
Sie arbeitete sich bis zur Ecke des Küchen- und Sanitärblocks vor und hatte nun die Wendeltreppe in weniger als zehn Metern Entfernung vor sich. Aber auf den unteren Stufen drängten sich Menschen zusammen, und in den Gängen zwischen den Sitz-reihen der Ersten Klasse war ebenfalls kaum mehr Platz. Barbara fühlte sich immer bedrohlicher eingeengt. Hände griffen nach ihr, aber sie konnte sie vorläufig noch abwehren. Ein Jugendlicher bekam ihre Bluse zu fassen und zerrte daran. Der dünne Baumwollstoff zerriß und ließ ihre Schulter sehen. Eine andere Hand riß die Bluse am Ausschnitt auf. Barbara stieß unwillkürlich einen Schrei aus, als jemand sie an den Haaren zog. Der junge Mann, der so normal wirkte, tauchte im Hintergrund der sie bedrängenden Gruppe auf und bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg nach vorn. Sie holte tief Luft und kreischte: »Hilfe! Helft mir doch!«
Aber ihre Stimme ging in Windgeräuschen, dem Triebwerks-lärm und dem aufgeregten Geschrei um sie herum unter. Über 100 Männer und Frauen schienen sich in dem Dschungel, zu dem die Kabine der Straton 797 jetzt geworden war, an Stimmkraft überbieten zu wollen. Barbara rief erneut um Hilfe, aber sie wußte, daß ihre Schreie untergingen.
Barbara behielt die Wand im Rücken, während sie sich langsam näher an die Wendeltreppe heranarbeitete. Die dichtgedrängte Menge interessierte sich kaum für sie, und Yoshiro stellte fest, daß sie einigermaßen gut vorankam, solange sie zwischen aggressivem und passivem Verhalten wechselte. Der junge Mann in dem blauen Blazer war jedoch weiterhin zielbewußt zu ihr unterwegs.
Sie erreichte die vordere Ecke des Küchen- und Sanitärblocks, die der Wendeltreppe am nächsten war. Dort standen die Menschen so dichtgedrängt, daß Barbara kaum noch vorankam. Sie rief erneut nach oben, aber die anderen schrien so laut durcheinander, daß sie nicht einmal ihre eigene Stimme hörte. Sie sah, daß die Passagiere einige Stufen weiter nach oben vorgedrungen waren. Ein Mann torkelte die letzten Stufen hinauf und schien im Salon zu verschwinden. Sekunden später flog er jedoch rückwärts die Treppe hinunter und riß die hinter ihm Stehenden mit. Mr. Stein verteidigte die Treppe offenbar weiterhin gut. Aber er konnte Barbara nicht hören – und hätte ihr nicht zu Hilfe kommen können, selbst wenn er sie gehört hätte.
Yoshiro überlegte, welche Möglichkeiten ihr blieben. Sie hätte sich totstellen können, aber das war wegen der vielen Leute in unmittelbarer Nähe schlecht möglich, und sie hätte auch nicht mehr die Nerven dazu gehabt. Barbara merkte, daß die Menge es nicht mehr auf sie abgesehen hatte, aber die zunehmende Gewalttätigkeit, die sie um sich herum beobachten konnte, machte den
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