Mayday
Löcher, die so unendliches Leid ausgelöst hatten, waren kaum ein Dutzend Schritte entfernt. Der Wind heulte durch diese offenen Wunden, und das Heulen lenkte Stein ab, so daß er kaum noch klar denken konnte. Er zögerte und wandte sich dann dem größeren zu.
Er legte schwitzend und atemlos die Last ab, die seine Tochter war, und zwang Debbie und Miriam dazu, sich hinzusetzen. Mehrere dünne Kabel peitschten über ihren Köpfen durch die Luft und trafen manchmal Miriam oder die Mädchen, die je-desmal aufschrien. Ein scharfes Drahtende fügte Stein eine stark blutende Wunde auf der Stirn zu.
Obwohl er sich vorgenommen hatte, nicht mit ihnen zu sprechen, beugte er sich über Susan und flüsterte ihr ins Ohr: »Sue, Liebling, Papa ist bei dir. Jetzt wird alles gut.« Er sah zu Debbie hinüber. Sie erwiderte seinen Blick, und er bildete sich Sekundenlang ein, in ihren Augen einen Funken intelligenten Lebens zu entdecken, aber dann erlosch auch diese Hoffnung.Debbie war ihre Älteste, und ihre Geburt nach so vielen kinderlosen Jahren war der schönste Augenblick ihrer Ehe gewesen. Stein küßte sie auf die Stirn.
Er zweifelte nicht daran, daß ihm das Los der anderen nur deshalb erspart geblieben war, damit er seiner Familie gegenüber seine Pflicht tun konnte. Stein bemitleidete die anderen, die weiterleiden mußten. Er bedauerte John Berry und Sharon Crandall und Linda Farley und Barbara Yoshiro. Sie litten mehr als die anderen und würden weiterleiden, bis das Flugzeug abstürzte oder – noch schlimmer – landete. Er bedauerte sie aufrichtig, aber er fühlte sich ihnen nicht länger verpflichtet. Das Tor zur Hölle stand unbewacht offen – und das war vielleicht gut so. Unter Umständen bedeutete es ein rascheres Ende für jedermann. Aber er, Harold Stein, hatte hier die große Chance, der Hölle zu entrinnen und seiner Familie die ewige Ruhe zu bringen, und er dachte nicht daran, sich vor dieser Verantwortung zu drücken.
Stein legte seinen Töchtern je einen Arm um die Taille und schob sie nach vorn auf das große Loch zu. Er beobachtete, wie sie ihm nacheinander aus den Händen glitten, vom Luftstrom erfaßt wurden und sich überschlagend ins sonnenblaue Nichts stürzten. Die beiden Mädchen verschwanden kurz hinter dem Leitwerk der Maschine; danach sah er sie wieder und verfolgte ihren Fall, bis sie kleiner und kleiner wurden und schließlich nicht mehr zu erkennen waren.
Er wandte sich ab, zog seine Frau aus ihrem Sessel hoch und führte sie zu dem Loch im Flugzeugrumpf. Sie schien bereitwillig mitzukommen. Vielleicht begriff sie, was er vorhatte. Er zweifelte daran, aber vielleicht war ihre Liebe – die wortlose Kommunikation, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte – stärker als … Stein zwang sich dazu, diesen Gedanken abzubrechen. Er starrte das Loch an, ohne es recht zu erkennen, weil er Tränen in den Augen hatte. Dann betrachtete er Miriams Gesicht. Aus den Augenwinkeln zogen sich zwei dünne Blutfäden über ihre Wangen. Er zog ihren Kopf an seine Brust. »Miriam, ich weiß, daß du mich nicht verstehst, aber …« Seine Stimme versagte, und er begann krampfhaft zu schluchzen.
Stein trat näher an das Loch heran. Er spürte den Luftstrom an seinem Körper zerren. »Miriam, ich liebe dich. Ich habe euch alle geliebt.« Er wollte Gott um Vergebung bitten, aber er glaubte zu wissen, daß dies Gottes Wille war.
Harold Stein hielt seine Frau an sich gedrückt, als er die Maschine und damit den Alptraum, zu dem Flug 52 geworden war, verließ.
Leutnant Peter Matos hockte nervös in seiner F-18, 100 Meter vor ihm behielt die Straton 797 der Trans-United Airlines ihren stetigen Kurs bei. Matos zwang sich dazu, einen Blick auf seine Borduhr zu werfen. Ihre Leuchtziffern schienen ihm ins Gesicht zu springen. Zu seiner Verblüffung war über eine Stunde vergangen, seitdem die Straton die Kursänderung nach Kalifornien vorgenommen hatte. Matos hatte den Eindruck, das alles liege erst wenige Minuten zurück. Er schüttelte ungläubig den Kopf. In dieser Zeit hatte er lediglich mehrmals mit Commander Sloan gesprochen und zweimal seinen Navigationsrechner benützt. Aber womit er die restliche Zeit verbracht hatte, war ihm ein Rätsel.
Los, tu was, Peter! Irgendwas! Sofort! Matos fühlte sich wie in Trance – von dem riesigen, ewig gleichbleibenden Pazifik hypnotisiert. Er atmete tief durch, um seinem Gehirn mehr Sauerstoff aus der Maske zuzuführen. Sieh dir die Instrumente an, forderte er sich
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