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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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einige Dutzend Kinder mit blauen Hemdblusen vor sich her trieben. Sie sahen wie die übriggebliebenen Schüler eines Internats aus, wie jene, die er in der Nähe von Lilie unterrichtet hatte, damals in dem Sommer, bevor er nach Cambridge ging. Eine Zeit, die ihm heute zum Leben eines anderen Menschen zu gehören schien. Eine tote Kultur. Erst hatten sie sein Leben zerstört, dann das aller anderen. Wütend preschte er voran, obwohl ihm klar war, daß er dieses Tempo nicht lange halten konnte. Er war nicht zum ersten Mal in einer solchen Kolonne, und er wußte genau, wonach er suchte. Gleich rechts war ein Graben, aber der war flach und zu einsehbar. Die Bäume standen auf der anderen Seite. Er drängte hinüber und geriet vor einen Renault, eine Limousine, deren Fahrer im gleichen Augenblick auf die Hupe drückte. Der schrille Lärm weckte Turners Wut. Genug! Er sprang zur Fahrertür und riß sie auf. Drinnen saß ein herausgeputztes Kerlchen mit Federhut und grauem Anzug, Lederkoffer neben sich, die Familie zusammengepfercht auf dem Rücksitz. Turner packte den Mann am Schlips und wollte ihm gerade mit der offenen rechten Hand ins dämliche Gesicht schlagen, als eine andere, weit stärkere Hand sich um sein Handgelenk schloß. »Ist doch nicht der Feind, Boss.«
Ohne seinen Griff zu lockern, zog Unteroffizier Mace ihn beiseite. Nettle, der direkt hinter ihm stand, trat mit solcher Wucht gegen die Fahrertür, daß der Rückspiegel abfiel. Die Kinder in ihren blauen Hemden lachten und klatschten Beifall. Die drei Männer drängten auf die andere Seite und hielten sich unter den Bäumen. Die Sonne stand hoch am Himmel, und es war warm, aber noch fiel kein Schatten auf die Straße. Von den Fahrzeugen im Straßengraben waren etliche aus der Luft zerstört worden. Rund um die aufgegebenen Lastwagen lag die Ladung, die immer wieder aufs neue von Soldaten auf der Suche nach Eßbarem, Getränken oder Benzin durchwühlt wurde. Turner und die beiden Unteroffiziere stapften an Kisten vorüber, aus denen Farbbandspulen für Schreibmaschinen quollen, an Hauptbüchern für doppelte Buchführung, einer Lieferung Blechtische und Drehstühle, Kochutensilien und Autoersatzteilen, Sätteln, Steigbügeln und Zaumzeug, Nähmaschinen, Fußballpokalen, stapelbaren Stühlen sowie einem Filmprojektor und einem Generator – beide zerschlagen von dem gleich daneben liegenden Kuhfuß. Sie sahen einen Sanitätswagen, der halb im Graben hing und von dem ein Rad abgeschraubt worden war. Auf einer Messingplakette an der Fahrertür stand: »Dieser Sanitätswagen ist ein Geschenk der britischen Bewohner Brasiliens.«
Turner fand heraus, daß man im Gehen schlafen konnte. Plötzlich verstummte das Lärmen der Motoren, die Nackenmuskeln wurden schlaff, und der Kopf fiel vornüber; beim Aufwachen fuhr er dann zusammen und schwankte meist ein wenig. Nettle und Mace wollten sich mitnehmen lassen, aber er hatte ihnen am Vortag schon erzählt, was in seiner ersten Kolonne passiert war – zwanzig Mann hinten auf einem Dreitonner, von einer einzigen Bombe getötet. Er selbst hatte unterdessen in einem Graben gehockt, den Kopf in einem Kanalrohr, und sich den Schrapnellsplitter eingefangen.
»Geht nur«, hatte er gesagt. »Ich bleib hier.«
Also wurde das Thema fallengelassen, sie wollten nicht ohne ihn gehen – er war ihr Glücksbringer.
Wieder gingen sie hinter einigen Infanteristen der Highland Lights her. Ein Soldat spielte Dudelsack, und prompt ringen die Unteroffiziere an, ihre eigene, nasale Parodie seiner Musik zu winseln. Turner tat, als wollte er auf die andere Straßenseite. »Wenn ihr eine Schlägerei anfangt, will ich nichts damit zu tun haben.«
Einige Schotten hatten sich bereits umgedreht und unterhielten sich leise.
»It’s a braw bricht moonlicht nicht the nicht«, rief Nettle in breitestem Cockney. Wahrscheinlich hätte es gleich darauf Ärger gegeben, wäre nicht weiter vorn ein Schuß gefallen. Da verstummte der Dudelsack. Auf einem offenen Feld versammelte sich ein Großteil der französischen Kavallerie, saß ab und trat in einer langen Reihe an. Am Beginn der Reihe stand ein Offizier, tötete ein Pferd mit einem Schuß in den Schädel und ging zum nächsten. Jeder Soldat hatte neben seinem Tier Haltung angenommen, die Schirmmütze feierlich vor der Brust. Die Pferde warteten geduldig, bis sie an die Reihe kamen. Dieses Schauspiel ihrer Niederlage schlug allen aufs Gemüt. Den Unteroffizieren war die Lust vergangen, sich mit den

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