McEwan Ian
daß er sich nach dem gestrigen Abend wieder den Spott der Unteroffiziere anhören mußte. Schmerz und Müdigkeit machten ihn überempfindlich, aber er sagte nichts und versuchte, sich zu konzentrieren. Das Dorf hatte er auf der Karte gefunden, aber nicht den Weg, obwohl der zweifellos zum Dorf führte. Offenbar war es genau so, wie er befürchtet hatte. Sie würden auf eine Straße stoßen und mindestens bis zur Verteidigungslinie am Bergues-FurnesKanal darauf bleiben müssen. Einen anderen Weg gab es nicht. Die Unteroffiziere rissen wieder ihre Sprüche. Er faltete die Karte zusammen und ging weiter.
»Irgendeinen Plan, Boss?«
Er gab keine Antwort.
»Huch, jetzt ist die Kleine aber beleidigt.«
Außer dem Tack-tack hörten sie tiefer im Westen noch Artilleriefeuer, ihr eigenes. Und je näher sie dem Dorf kamen, um so lauter wurde das Geräusch langsam fahrender Lastwagen. Dann sahen sie die Fahrzeuge, eine lange Reihe, die im Schrittempo nach Norden kroch. Es war verlockend, einfach hinten aufzusitzen, aber Turner wußte aus Erfahrung, was für leichte Ziele diese Laster aus der Luft boten. Zu Fuß konnte man wenigstens hören und sehen, was auf einen zukam.
Ihr Weg traf dort auf die Straße, wo diese mit einer scharfen Rechtskurve aus dem Dorf herausführte, und sie setzten sich auf den Rand eines steinernen Wassertrogs, um ihren Füßen zehn Minuten Pause zu gönnen. Mit kaum zwei Kilometern die Stunde quälten sich Dreitonner, Zehntonner, Halbkettenfahrzeuge und Sanitätswagen um die enge Biegung und verließen das Dorf auf einer langen, geraden, links von Platanen gesäumten Straße. Sie führte direkt nach Norden, wo eine schwarze Wolke von verbranntem Öl am Horizont stand und Dünkirchen markierte. Den Kompaß würden sie nicht mehr brauchen. Aufgereiht entlang der Straße lagen von den eigenen Truppen zerstörte Militärfahrzeuge. Dem Feind sollte nichts Brauchbares in die Hände fallen. Verwundete, soweit sie bei Bewußtsein waren, starrten ihnen ausdruckslos aus offenen Lastwagen nach. Und zwischen Panzerwagen, Stabswagen, Panzerspähwagen und Motorrädern entdeckten sie vollgestopfte, mit Koffern und Haushaltsdingen hoch beladene zivile Fahrzeuge, Autos, Busse, Viehlaster oder auch Karren, die von Männern und Frauen oder von Pferden gezogen wurden. Die Luft war grau vor Dieselqualm. Aberhundert Soldaten kämpften sich müde durch den Gestank, die meisten mit dem Gewehr in der Hand und über den Schultern den lästigen Militärmantel – bloßer Ballast in der last in der zunehmenden Hitze -; für den Augenblick waren sie zu Fuß schneller als der motorisierte Verkehr.
Mit den Soldaten marschierten Familien, schleppten Bündel und Koffer, Babys auf dem Arm, Kinder an den Händen. Der einzige menschliche Laut, den Turner hörte, war das Geschrei dieser Babys. Einige ältere Menschen gingen allein. Ein alter Mann, sauberer grüner Leinenanzug, Fliege und Pantoffeln, schlurfte an zwei Stöcken so langsam voran, daß er sogar von den Autos überholt wurde. Er schnaufte erbärmlich. Wohin er auch wollte, er würde nicht ankommen. Auf der anderen Straßenseite, gleich an der Kurve, war ein Schuhgeschäft. Turner sah, wie eine Frau rnit einem kleinen Mädchen auf eine Verkäuferin einredete, die zwei verschiedene Schuhe in Händen hielt – die drei achteten überhaupt nicht auf die Prozession in ihrem Rücken. Um dieselbe Kurve schob sich in Gegenrichtung eine Kolonne von Panzerwagen, deren Lack noch keinen einzigen Kratzer hatte. Sie fuhren nach Süden, dem deutschen Angriff entgegen. Sollten sie allerdings auf eine feindliche Panzerdivision treffen, konnten sie nicht damit rechnen, den fliehenden Soldaten mehr als ein oder zwei Stunden Zeit zu verschaffen. Turner stand auf, nahm einen Schluck aus der Feldflasche und reihte sich hinter zwei Soldaten der Highland Light Infantery in die Prozession ein. Die Unteroffiziere folgten ihm, aber da sie sich nun dem Hauptstrom der Flüchtenden angeschlossen hatten, fühlte er sich nicht mehr für sie verantwortlich, jetzt nicht mehr. Der Schlafmangel verstärkte noch seinen Haß. Ihre Sticheleien ärgerten ihn heute, weil er fand, daß sie die Kameradschaft vom Vorabend verrieten. Aber eigentlich haßte er heute alle Menschen. Seine Gedanken drehten sich nur noch um den kleinen, harten Kern des eigenen Überlebens.
Um die Unteroffiziere abzuschütteln, beschleunigte er seinen Schritt, überholte die Schotten und drängte sich an einem Grüppchen Nonnen vorbei, die
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