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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Schotten anzulegen, und die wiederum hatten sie längst vergessen. Minuten später sahen sie fünf Leichen im Graben, drei Frauen und zwei Kinder, das Gepäck um sie herum verstreut. Eine der Frauen trug Pantoffeln, genau wie der Mann im Leinenanzug. Turner wandte den Blick ab, fest entschlossen, nichts mehr an sich herankommen zulassen. Wenn er überleben wollte, mußte er den Himmel im Auge behalten. Das vergaß er immer wieder, so müde war er. Außerdem war es schrecklich heiß. Einige Männer ließen ihren Militärmantel einfach zu Boden sinken. Ein herrlicher Tag. Jedenfalls hätte man ihn zu einer anderen Zeit einen herrlichen Tag genannt. Die Straße stieg an, langsam, aber stetig, gerade so viel, daß ihm die Beine schwer wurden und die Schmerzen in der Seite zunahmen. An der linken Ferse hatte er sich eine Blase gelaufen, weshalb er den Fuß im Stiefel möglichst weit vorschob. Ohne stehenzubleiben, holte er Brot und Käse aus dem Gepäck, doch war ier zum Kauen zu durstig. Also steckte er sich wieder eine Zigarette an, um den Hunger zu betäuben, und versuchte, sein Ziel auf das Wesentliche einzugrenzen: Er ging über Land, bis er ans Meer kam. Was könnte einfacher sein, ließ nan mal die anderen außer acht? Er war der einzige Mensch auf Erden, und sein Ziel war eindeutig. Er ging über Land, bis er ans Meer kam. In Wirklichkeit gab es viele Menschen, die ihm folgten, das wußte er, aber die Illusion tat gut, und endlich hatte er einen Rhythmus für seine Schritte gefunden. Ich geh / durchs Land / so rasch / ich kann / bis ans / weite Meer. Ein Hexameter. Fünf Jamben und ein Anapäst gaben den Rhythmus vor, nach dem er sich jetzt bewegte. Zwanzig Minuten weiter, und sie hatten die Anhöhe geschafft. Wenn er über die Schulter zurückblickte, sah er, daß die Kolonne sich kilometerweit den Hügel hinabzog; nach vorn konnte er kein Ende erkennen. Sie kreuzten einen Schienenstrang. Laut Karte waren es noch gut fünfundzwanzig Kilometer bis zum Kanal. Inzwischen hatten sie einen Straßenabschnitt erreicht, der beinahe lückenlos von zerstörter Ausrüstung gesäumt wurde. Wie von einem schweren Bulldozer zusammengeschoben, türmten sich ein halbes Dutzend 25-Pfünder hinterm Graben. Vor ihnen fiel das Land wieder ab, und an einer Nebenstraßenkreuzung stockte der Verkehr. Gelächter brandete auf, dann waren vom Straßenrand laute Stimmen zu hören. Als Turner näher kam, sah er einen Major des East Kent Regiments, einen Soldaten der alten Schule, um die Vierzig, mit rosigem Gesicht, der laut schreiend über zwei Felder hinweg auf einen Wald in anderthalb Kilometer Entfernung zeigte. Er zerrte Männer aus der Kolonne, oder versuchte es doch zumindest, aber die meisten ignorierten ihn einfach und gingen weiter, andere lachten ihn aus. Vom Offiziersrang eingeschüchtert blieb jedoch der ein oder andere stehen, obwohl dem Mann selbst jede persönliche Autorität fehlte. Sie hatten sich mit ihren Gewehren um ihn versammelt und starrten ihn unsicher an.
»He, Sie da. Ja, genau, Sie meine ich.«
Die Hand des Majors lag auf Turners Schulter. Er blieb stehen und salutierte, noch ehe er recht wußte, was er tat. Die Unteroffiziere waren hinter ihm.
Ein kurzer Oberlippenbart überschattete die schmalen, zusammengepreßten Lippen, zwischen denen er barsch die Worte hervorstieß: »Der Jerry steckt drüben im Wald. Von uns eingekesselt. Muß eine Vorhut sein. Zwei Maschinengewehre. Verdammt gut eingegraben. Wir gehen rein und holen ihn da raus.«
Turner fühlte, wie ihn eisiges Entsetzen packte, die Knie begannen zu schlottern. Er zeigte dem Major die leeren Handflächen.
»Aber womit denn, Sir?«
»Mit List und einem bißchen Kameradschaftsgeist.« Wie konnte er sich bloß gegen diesen Idioten zur Wehr setzen? Turner war zu müde zum Nachdenken, doch wußte er, daß er nicht mitgehen würde.
»Also, ich habe da oben die Reste von zwei Zügen auf dem östlichen…«
Reste war das Wort, das ihnen alles sagte und das Mace dazu brachte, ihm ins Wort zu fallen und seine ganze Kasernenhoferfahrung aufzubieten.
»Entschuldigen Sie, Sir. Erbitte Erlaubnis, sprechen zu dürfen.« »Erlaubnis verweigert, Unteroffizier.«
»Besten Dank, Sir. Befehl vom Hauptquartier. Sofort, schnell, zügig und unverzüglich nach Dünkirchen vorzurücken, Sir, ohne zu debattieren, deroutieren oder sich zu verdünnisieren, und zwar zum Zweck der allgemeinen und sofortigen Evakuierung, da sonst Gefahr droht, von allen Seiten kolossal und

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