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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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hatte. Armes Mädchen. Aber es war nun mal vier Uhr, und Vorschrift war Vorschrift.
Ich muß mich beeilen, damit der Brief noch rechtzeitig zum Postamt Balham kommt und hoffentlich noch vor dem Wochenende über den Kanal geht. Aber ich will nicht mit einem traurigen Bild enden. Eigentlich bin ich nämlich schrecklich aufgeregt wegen der Neuigkeiten von meiner Schwester und dem, was sie für uns bedeuten könnten. Deine Geschichte mit den Feldwebeln auf der Latrine hat mir übrigens gut gefallen. Ich habe sie den Mädchen vorgelesen, und sie haben gelacht wie die Irren. Schön, daß Euer Verbindungsoffizier festgestellt hat, wie gut Du Französisch sprichst, und daß er Dir eine Arbeit gegeben hat, bei der Du Deine Sprachkenntnisse anwenden kannst. Warum hat man eigentlich so lange gebraucht, Deine Talente zu entdecken? Hast Du Dich zu sehr zurückgehalten? Was das französische Brot angeht, hast Du allerdings völlig recht – nach zehn Minuten ist man wieder hungrig. Alles Luft und nichts dahinter. Balham ist eigentlich gar nicht so übel, wie ich es beschrieben habe, aber davon beim nächsten Mal mehr. Ich lege Dir in den Umschlag ein Gedicht von Auden über den Tod von Yeats, das ich aus einer London Mercury vom letzten Jahr ausgeschnitten habe. Am Wochenende fahre ich zu Grace und werde in den Kisten nach Deinem Housman suchen. Muß mich beeilen. Denke jede Minute an Dich. Ich liebe Dich. Ich warte auf Dich. Komm zurück. Cee.
    E in Stiefeltritt ins Kreuz weckte ihn.
»Komm schon, Boss. Raus aus den Federn!«
    Er fuhr hoch und blickte auf seine Armbanduhr. Das Scheunentor war ein blauschwarzes Rechteck. Er nahm an, daß er etwa eine Dreiviertelstunde geschlafen hatte. Mace schüttelte gewissenhaft das Stroh aus den Säcken und baute den Tisch ab. Dann hockten sie stumm auf den Ballen und rauchten die erste Zigarette des Tages. Als sie nach draußen gingen, fanden sie einen Tontopf mit einem schweren Holzdeckel. Eingewickelt in ein Musselintuch lagen darin ein Laib Brot und eine Ecke Käse. Turner teilte die Vorräte gleich mit seinem Bowiemesser auf. »Für den Fall, daß wir getrennt werden«, murmelte er. Im Bauernhaus brannte bereits Licht, und die Hunde bellten wie verrückt, als sie über den Hof gingen. Sie stiegen über ein Tor und stapften in nördlicher Richtung über einen Acker davon. Nach knapp einer Stunde hielten sie in dichtem Unterholz an, rauchten und tranken aus ihren Feldflaschen. Turner studierte die Karte. Hoch oben am Himmel flogen bereits die ersten Bomber, fünfzig Heinkel in Formation, ebenfalls unterwegs zur Küste. Die Sonne ging auf; Wolken waren kaum zu sehen. Ein idealer Tag für die Luftwaffe. Schweigend marschierten sie gut eine Stunde lang. Sie fanden keinen brauchbaren Weg, also folgten sie der Kompaßnadel, liefen über Weiden, vorbei an Kühen und Schafen, und über Äcker mit Rüben und jungem Weizen. Auch wenn sie sich von den Straßen fernhielten, waren sie nicht so sicher, wie Turner geglaubt hatte. Auf einer Kuhweide zählten sie ein Dutzend Bombentrichter, und in hundert Metern Umkreis versprengt lagen Fleischfetzen, Knochen und schwarzweiße Fellstücke. Doch die Männer waren in Gedanken versunken und sagten kein Wort. Turner hatte Probleme mit der Karte. Er nahm an, daß es noch etwa vierzig Kilometer bis Dünkirchen waren, aber je näher sie kamen, um so schwieriger würde es werden, die Straßen zu vermeiden. Alles lief dort zusammen. Flüsse und Kanäle mußten überquert werden. Und falls sie die Brücken benutzten, würden sie bloß Zeit verlieren, wenn sie anschließend wieder querfeldein marschierten.
Kurz nach zehn Uhr machten sie noch mal Rast. Sie waren über einen Zaun geklettert, um auf einen Weg zu gelangen, den er auf der Karte nicht finden konnte. Immerhin führte dieser in die richtige Richtung über flaches, fast baumloses Land. Sie waren knapp eine halbe Stunde marschiert, als sie einige Kilometer voraus einen Kirchturm sahen und eine Flak hörten. Er blieb stehen und sah erneut auf der Karte nach.
»Mann, mit der Karte kann man keine Miezen finden«, sagte Unteroffizier Nettle.
»Psst. Er hat wieder seine Zweifel.«
Turner lehnte sich gegen einen Zaunpfosten. Jedesmal, wenn er den rechten Fuß aufsetzte, tat ihm die ganze Seite weh. Das scharfe Ding schien sich durch die Haut zu bohren und sich in seinem Hemd zu verhaken. Er mußte einfach immer wieder mit dem Zeigefinger drüberfahren, fühlte aber nur gereizte, aufgeplatzte Haut. Es war nicht fair,

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