McEwan Ian
bis wir wieder zusammen sind. Doch jetzt, da ich Deinen Brief in Händen halte, wäre es unsinnig, Dir nichts zu sagen. Die erste Überraschung ist die, daß Briony gar nicht nach Cambridge gegangen ist. Ich war ziemlich erstaunt, da ich von Dr. Hall wußte, daß man dort mit ihr gerechnet hat. Die zweite Überraschung: Sie läßt sich in meinem alten Krankenhaus zur Krankenpflegerin ausbilden. Kannst Du Dir Briony mit Bettpfanne vorstellen? Wahrscheinlich hat man über mich auch so geredet, aber sie ist doch ein schrecklicher Phantast, wie wir zu unserem eigenen Leidwesen feststellen mußten. Mich dauern jetzt schon die Patienten, denen sie eine Spritze geben wird. Ihr Brief klingt jedenfalls ziemlich verwirrt und auch verwirrend. Sie will sich mit mir treffen. Langsam beginnt sie wohl das Ausmaß dessen zu begreifen, was sie angerichtet hat, und welche Folgen ihr Handeln damals hatte. Daß sie nicht zur Universität geht, hat damit wohl einiges zu tun. Sie behauptet, auf praktische Weise nützlich sein zu wollen. Aber ich habe eher den Eindruck, als wollte sie Krankenpflegerin werden, um eine Art Buße zu tun. Jedenfalls will sie herkommen, mich sehen und mit mir sprechen. Vielleicht irre ich mich ja – und deshalb wollte ich eigentlich abwarten und erst mit Dir persönlich darüber reden –, aber ich glaube, sie will ihre Aussage widerrufen, und zwar ganz offiziell und rechtsgültig. Könnte sein, daß das gar nicht möglich ist, wenn man bedenkt, daß Deine Berufung abgewiesen wurde. Zumindest müssen wir unbedingt mehr über die juristischen Probleme in Erfahrung bringen. Vielleicht sollte ich zu einem Anwalt gehen. Ich will nicht, daß wir uns vergebens Hoffnung machen. Vielleicht meint sie auch gar nicht, was ich aus ihrem Brief herauslese, vielleicht ist sie gar nicht bereit, es bis zu Ende durchzustehen. Vergiß nicht, was für eine Träumerin sie ist.
Ich werde jedenfalls nichts unternehmen, bis ich etwas von Dir gehört habe. Eigentlich wollte ich Dir von alldem ja nichts berichten, aber da Du mir wieder geschrieben hast, daß ich mich mit meinen Eltern in Verbindung setzen soll (ich bewundere Deine Großmut), mußte ich Dir einfach mitteilen, daß sich unsere Lage ändern könnte. Sollte es juristisch unmöglich sein, daß Briony vor einen Richter tritt und bestätigt, Bedenken wegen ihrer Aussage bekommen zu haben, kann sie wenigstens hingehen und es unseren Eltern gestehen. Die können dann immer noch entscheiden, wie sie vorgehen wollen. Falls sie sich überwinden und Dir einen Brief schreiben, in dem sie sich angemessen entschuldigen, könnte das doch immerhin ein Anfang sein.
Ich muß oft an Briony denken. Krankenpflegerin zu werden, sich aus ihrer sozialen Schicht zu lösen kostet sie sicherlich größere Überwindung als mich. Ich habe wenigstens meine drei Jahre in Cambridge gehabt, und ich hatte einen Grund, mich von meiner Familie zu trennen. Sie hat gewiß auch ihre Gründe. Ich kann nicht leugnen, daß ich sie gern erfahren würde. Doch ich warte auf Dich, Liebster, darauf, daß Du mir sagst, was Du von alldem hältst. Ach, fast hätte ich es vergessen, sie hat auch geschrieben, daß Cyril Connolly von Horizon einen Text von ihr abgelehnt hat. Wenigstens einer, der ihre elenden Phantastereien durchschaut.
Erinnerst Du Dich noch an die beiden Frühchen, von denen ich Dir erzählt habe, die Zwillinge? Das kleinere Baby ist gestorben, nachts, als ich Dienst hatte. Die Mutter war schrecklich niedergeschlagen. Man hatte uns gesagt, der Vater sei Maurer, und ich fürchte, wir haben alle einen frechen kleinen Kerl mit Zigarette im Mundwinkel erwartet. Er war in East Anglia mit einer Firma, die dem Heeresdienst unterstellt worden ist, um Verteidigungsanlagen entlang der Küste zu bauen, weshalb er auch erst so spät ins Krankenhaus kommen konnte. Wie sich dann herausstellte, war er ein ziemlich attraktiver Bursche, neunzehn Jahre alt, über eins achtzig groß, mit blondem Haar, das ihm ständig in die Stirn fiel. Er hat einen Klumpfuß, genau wie Byron, weshalb er auch nicht eingezogen worden war. Jenny meinte, er sehe wie ein griechischer Gott aus. Wie lieb und sanft und geduldig er mit seiner jungen Frau umging! Wir waren alle ganz gerührt. Schlimm war bloß, daß er es gerade geschafft hatte, sie ein wenig zu beruhigen, als die Besuchszeit zu Ende ging und die Schwester durch die Zimmer kam und ihn wie alle anderen nach draußen schickte. Danach konnten wir dann weitermachen, wo er aufgehört
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