McEwan Ian
1935 war sie noch ein Kind gewesen. Das hatte er sich selbst gesagt, das hatten Cecilia und er sich oft gesagt. Ja, sie war bloß ein Kind gewesen. Doch nicht jedes Kind schickte mit einer Lüge einen Mann ins Gefängnis. Nicht jedes Kind ist derart zielstrebig und bösartig, über lange Zeit so unbeirrt, schwankte nie, zweifelte nie. Ein Kind, doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, in seiner Zelle davon zu träumen, wie er Briony demütigen könnte, Dutzende Möglichkeiten zu ersinnen, wie er sich an ihr rächen wollte. Einmal, in Frankreich, in der kältesten Winterwoche, von Cognac sturzbetrunken, hatte er sie sich aufgespießt auf seinem Bajonett ausgemalt. Briony und Danny Hardman. Es war weder gerecht noch vernünftig, Briony zu hassen, aber es half.
Wie wollte er auch bloß ansatzweise verstehen, was in diesem Kind vorging? Nur eine einzige Theorie hielt stand. Es hatte da einen Tag im Juni 1932 gegeben, der ihm so strahlend schön erschienen war, weil er völlig unvermutet nach einer langen, windigen Regenzeit anbrach, einer jener seltenen Vormittage, die mit ihrem verschwenderischen Übermaß an Wärme, Licht und frischem Grün den eigentlichen Beginn des Sommers bedeuteten, sein prächtiges Portal. Er ging mit Briony spazieren, vorbei am Triton-Brunnen, dem Grenzgraben und den Rhododendronbüschen, durch das eiserne Schwingtor und über den schmalen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte. Sie war aufgeregt und redete ununterbrochen. Sie mußte damals zehn Jahre alt gewesen sein und hatte gerade angefangen, ihre kleinen Geschichten zu schreiben. Wie alle ihre Verwandten und Bekannten hatte auch er seine eigene, gebundene und bebilderte Erzählung von Liebe, bestandenen Gefahren, gefühlvollem Wiedersehen und abschließender Hochzeit erhalten. Sie waren unterwegs zum Fluß, eine versprochene Schwimmstunde einzulösen. Als sie das Haus verließen, hatte sie ihm bestimmt von einer ihrer jüngsten Geschichten erzählt, vielleicht auch von einem Buch, in dem sie gerade las. Kann sein, daß sie seine Hand gehalten hatte. Sie war ein stilles, leidenschaftliches Mädchen, fast ein wenig spröde, und ein solcher Redeschwall war ziemlich ungewöhnlich. Doch er hatte nichts dagegen, ihr einfach nur zuzuhören. Für ihn selbst war dies auch eine aufregende Zeit. Er war neunzehn, das Examen fast vorbei, und er glaubte, gar nicht mal schlecht abgeschnitten zu haben. Bald würde er kein Schuljunge mehr sein. Das Aufnahmegespräch in Cambridge hatte sich gut angelassen, und in zwei Wochen würde er nach Frankreich fahren, wo er an einer konfessionellen Schule Englisch unterrichten sollte. Dieser Tag hatte etwas Prunkvolles, vielleicht wegen der mächtigen, sich kaum regenden Buchen und Eichen oder wegen des Lichtes, das wie Perlen durch frisches Grün tropfte und sich zu kleinen Pfützen auf dem faulen Laub vom Vorjahr sammelte. Diese Pracht, so meinte er in jugendlichem Leichtsinn zu spüren, spiegelte den herrlichen Schwung seines Lebens.
Sie schwatzte weiter, und er hörte zufrieden, aber nur mit halbem Ohr zu. Der Pfad führte sie aus dem Wald auf das breite, grasbewachsene Flußufer, und sie gingen knapp einen Kilometer stromaufwärts, bis sie wieder in den Wald eintauchten. Hier, in einer Flußbiegung, unter überhängenden Bäumen, war das Becken, das man zu Zeiten von Brionys Großvater ausgetieft hatte. Ein steinernes Wehr dämmte die Strömung und eignete sich hervorragend als Sprungplatz. Für Anfänger war die Stelle allerdings weniger ideal. Ob vom Wehr oder vom Ufer, man landete jedesmal gleich in drei Meter tiefem Wasser. Er sprang hinein, trat auf der Stelle und wartete auf Briony. Sie hatten schon letztes Jahr mit dem Unterricht begonnen, spät im Sommer, als der Fluß weniger Wasser führte und die Strömung eher träge gewesen war. Doch heute konnte man selbst im Becken einen stetigen, kreiselnden Sog spüren. Briony zögerte einen Moment, dann hüpfte sie mit lautem Schrei vom Ufer in seine Arme. Sie übte Wassertreten, bis die Strömung sie ans Wehr trieb, und dann zog er Briony quer durchs Becken, damit sie wieder von vorn beginnen konnte. Als sie nach der langen Winterpause mit Brustschwimmen begann, mußte er sie halten, was, da er selbst Wasser trat, nicht ganz einfach war. Nahm er aber die Hand fort, schaffte sie höchstens drei oder vier Züge, ehe sie unterging. Sie fand es lustig, daß sie gegen die Strömung schwimmen mußte, wenn sie am selben Fleck bleiben wollte. Aber sie blieb
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