Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
nach, bis sie seinem Blick entschwunden war, und machte sich dann erst auf den Weg nach Hause. Vor seiner Abreise nach Frankreich sollte er sie nicht wiedertreffen, und als er im September zurückkehrte, war sie im Internat. Kurze Zeit später ging er nach Cambridge und feierte Weihnachten mit Freunden, weshalb er Briony erst im darauffolgenden April wiedergesehen hatte, und da war der Vorfall längst vergessen. Oder vielleicht doch nicht?
Er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, viel zuviel Zeit. Doch er konnte sich an kein zweites, irgendwie auffälliges Gespräch mit ihr erinnern, an kein merkwürdiges Benehmen, keine bedeutungsvollen Blicke oder beleidigten Mienen, die ihm verraten hätten, daß der Schulmädchenflirt länger als jenen einen Tag im Juni gedauert hätte. In den Semesterferien war er fast immer daheim in Surrey gewesen, und sie hatte oft Gelegenheit gehabt, ihn im Pförtnerhaus aufzusuchen oder ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Damals hatte ihn sein neues Leben fasziniert, hatte er den Reiz des ungewohnten Studentendaseins genossen und außerdem darauf geachtet, ein wenig Abstand von der Familie Tallis zu gewinnen. Doch es mußte Anzeichen gegeben haben, die von ihm übersehen worden waren. Drei Jahre lang mußte sie Gefühle für ihn gehegt und sie vor ihm verborgen haben, Gefühle, die allein von ihrer Phantasie gespeist und nur in ihren Geschichten ausgelebt wurden. Sie gehörte zu jenen Mädchen, die mit dem Kopf in den Wolken lebten. Vielleicht hatte ihr das Drama am Fluß genügend Stoff für all die Jahre geboten.
    Diese Theorie oder auch diese Gewißheit gründete sich auf die Erinnerung an eine einzige Begegnung – die Begegnung in der Dämmerung auf der Brücke. Jahrelang hatte er immer wieder über seinen Spaziergang durch den Park nachgedacht. Sie dürfte gewußt haben, daß er zum Essen eingeladen war. Und da stand sie, barfuß, in ihrem schmutzigen, weißen Kleid. Das allein war schon merkwürdig genug. Vermutlich hatte sie auf ihn gewartet, hatte vielleicht eine kleine Rede vorbereitet, sie vielleicht, während sie auf der steinernen Brüstung saß, sogar laut geübt. Als er schließlich kam, brachte sie keinen Ton heraus. Das war an sich schon eine Art Beweis. Selbst damals hatte er es seltsam gefunden, daß sie kein Wort sagte. Er gab ihr den Brief, und sie rannte los. Minuten später hatte sie den Umschlag aufgemacht. Sie war schockiert, und nicht nur über das eine Wort. In ihren Augen hatte er ihre Liebe verraten, weil er ihrer Schwester den Vorzug gegeben hatte. In der Bibliothek dann sah sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, und im selben Moment brach ihre ganze Phantasiewelt zusammen. Erst Enttäuschung und Verzweiflung, später wachsende Verbitterung. Im Dunkeln schließlich, während alle nach den Zwillingen suchten, die unglaubliche Gelegenheit zur Rache. Sie nannte seinen Namen – und außer ihrer Schwester und seiner Mutter zweifelte niemand an dem, was sie erzählte. Den spontanen Impuls, die aufbrausende Gehässigkeit, die kindliche Zerstörungswut, die konnte er verstehen. Erstaunlich fand er nur, wie tief die Verbitterung des Mädchens saß, wie beharrlich es an einer Geschichte festhielt, die ihn ins Gefängnis von Wandsworth gebracht hatte. Doch nun würde seine Unschuld wohl endlich festgestellt werden, und darüber freute er sich. Er konnte den Mut anerkennen, den es sie kosten würde, erneut vor Gericht zu gehen und die Zeugenaussage zu widerrufen, die sie unter Eid abgelegt hatte. Doch glaubte er nicht, daß er jemals aufhören würde, sie zu verachten. Gewiß, sie war damals ein Kind gewesen, aber er konnte ihr nicht verzeihen. Er würde ihr niemals verzeihen. Das war der eigentliche Schaden, den sie angerichtet hatte.
    V orn kam es wieder zu irgendeiner Unruhe, irgendwelchem Geschrei. Es war kaum zu fassen, aber eine Panzerkolonne rückte gegen den Strom vor, mitten durch die Menge der Flüchtlinge und Soldaten. Widerwillig teilte sich der Troß, zwängten sich die Menschen in die Lücken zwischen liegengelassenen Fahrzeugen oder drängten sich an zerschmetterte Mauern und in zerstörte Hauseingänge. Es war eine französische Einheit, eine kleine Abteilung – drei Panzerwagen, zwei Halbkettenfahrzeuge und zwei Mannschaftswagen. Schwer zu glauben, daß sie auf derselben Seite standen. Die britischen Truppen waren der Ansicht, die Franzosen hätten sie im Stich gelassen. Keine Lust, fürs eigene Land zu kämpfen. Wütend fluchten die

Weitere Kostenlose Bücher