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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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nicht mit Feierlichkeiten auf. Sie schaufelten die Erde wieder ins Loch, und bald war die Leiche nicht mehr zu sehen.
»Hübscher Junge«, sagte Nettle.
Mit einem Strick hatten sie zwei Zeltstangen zu einem Kreuz zusammengebunden. Nettle hämmerte es mit dem flachen Spaten in den Boden. Sobald sie fertig waren, gingen sie zurück auf die Straße.
Mace sagte: »Er war bei seinen Großeltern, und die wollten ihn nicht im Graben liegenlassen. Ich dachte, sie würden kommen und sich von ihm verabschieden, aber die beiden sind selbst ziemlich schlimm dran. Wir sollten ihnen lieber sagen, wo er liegt.«
Doch die Großeltern des Jungen waren nirgendwo aufzufinden. Als sie sich wieder in den Troß einreihten, holte Turner die Karte heraus und sagte: »Behaltet den Himmel im Auge.« Der Major hatte recht – da die Messerschmitt sie nur flüchtig gestreift hatte, würden die Flugzeuge wiederkommen. Sie hätten längst da sein müssen. Auf seiner Karte war der Bergues-FurnesKanal ein dicker, hellblauer Strich. Turners Ungeduld, endlich bis zu ihm vorzudringen, hatte sich untrennbar mit seinem Durst verknüpft. Er wollte sein Gesicht in dieses Blau tauchen, wollte es in tiefen Zügen austrinken. Dieser Gedanke erinnerte ihn an kindliche Fieberphantasien, an ihre wilde, erschreckende Logik, an die Suche nach der kühlsten Stelle auf dem Kissen, an die Hand seiner Mutter auf der Stirn. Die liebe Grace. Wenn er jetzt seine Stirn berührte, fühlte sich die Haut trocken und wie Pergament an. Er spürte, daß sich die Entzündung um seine Wunde ausbreitete; die Haut spannte sich immer stärker, verhärtete sich, und irgendwas, kein Blut, suppte ins Hemd. Er wollte sich in Ruhe untersuchen, aber das würde hier kaum möglich sein. Die Marschkolonne kroch in dem alten, unerbittlichen Tempo voran. Die Straße führte direkt zur Küste – Abkürzungen gab es nicht mehr. Und je näher sie kamen, desto weiter breitete sich die schwarze Wolke, die bestimmt von einer brennenden Raffinerie in Dünkirchen herrührte, über den nördlichen Himmel aus. Ihm blieb nichts anderes übrig, als darauf zuzulaufen. Also senkte er den Kopf und überließ sich wieder dem stummen Trott.
     
E s gab keine Platanen mehr, die Deckung geboten hätten. Schattenlos und Überfällen schutzlos ausgeliefert, wand sich die Straße in langen, flachen S-Kurven durch das wellige Gelände. Er hatte kostbare Reserven mit unnötigem Geschwätz und überflüssigen Begegnungen vergeudet. Müdigkeit hatte ihn in oberflächliche Hochstimmung versetzt und unnötig mitteilsam gemacht. Jetzt beschränkte er seine Energie auf den Rhythmus seiner Stiefel – ich geh durchs Land, so rasch ich kann, bis ans weite Meer. All das, was ihn aufhielt, mußte, und wenn es noch so geringfügig war, von dem überboten werden, was ihn vorantrieb. In der einen Waagschale seine Wunde, der Durst, die Blase, Müdigkeit, Hitze, schmerzende Füße und Beine, Stukas, die vielen Kilometer, der Ärmelkanal, in der anderen Ich warte auf Dich und die Erinnerung an den Augenblick, in dem sie es gesagt hatte, der für ihn inzwischen gleichsam heilig geworden war. Dann noch die Angst davor, gefangengenommen zu werden. Seine sinnlichsten Erinnerungen – die wenigen Minuten in der Bibliothek, der Kuß an der Haltestelle – waren durch zu häufigen Gebrauch ausgebleicht. Bestimmte Abschnitte aus ihren Briefen kannte er auswendig, zum Brunnen, an dem sie sich wegen der Vase gestritten hatten, war er oft zurückgekehrt, und er hatte nicht vergessen, wie warm ihr Arm bei dem Abendessen gewesen war, an dem die Zwillinge verschwanden. Diese Erinnerungen gaben ihm Kraft, wenn auch nicht mehr so leichthin wie früher. Allzuoft mußte er daran denken, wo er sie zuletzt heraufbeschworen hatte. Sie lagen auf der anderen Seite einer großen Zeitenteilung, die ebenso bedeutsam wie v. Chr. und n. Chr. war. Vor dem Gefängnis, vor dem Krieg, vor den Tagen, in denen der Anblick einer Leiche zur Banalität verkommen war.
Doch diese Ketzereien verstummten, sobald er ihren letzten Brief gelesen hatte. Turner faßte nach seiner Brusttasche, fühlte nach dem Brief. Fast eine Art Bekreuzigung. Noch da. Dieser Brief war etwas Neues auf den Waagschalen. Der Gedanke, seine Unschuld könnte bewiesen werden, schien von der gleichen schlichten Größe wie die Liebe selbst. Allein der Vorgeschmack darauf machte ihm bewußt, wieviel verkümmert und abgestorben war. Seine Lust am Leben, nichts Geringeres, all die alten Ziele und

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