McEwan Ian
Sehnsüchte. Jetzt bestand Hoffnung auf Wiedergeburt, auf eine triumphale Rückkehr. Er konnte wieder zu jenem Mann werden, der in der Abenddämmerung im besten Anzug durch einen Park in Surrey gegangen war, erhobenen Hauptes der Zukunft entgegen, der das Haus betreten und Cecilia geliebt hatte - nein, er wollte das Wort vor den Unteroffizieren retten, sie hatten gevögelt, während andere auf der Terrasse an ihren Cocktails nippten. Die Geschichte konnte weitergehen, jene, an die er an dem abendlichen Spaziergang gedacht hatte. Sie würden nicht mehr isoliert sein, er und Cecilia. Ihre Liebe würde den nötigen Raum und einen Platz in der Gesellschaft erhalten. Und er würde nicht mit der Mütze in der Hand um Verständnis von Freunden betteln, die ihn gemieden hatten. Er würde sich auch nicht zurücklehnen, grimmig und stolz, und sie nun seinerseits meiden. Er wußte genau, was er wollte. Er würde einfach weitermachen. Sobald seine Unschuld bewiesen war, konnte er sich nach Kriegsende fürs Medizinstudium bewerben, konnte sich vielleicht auch vorher schon zu den Sanitätern melden. Wenn Cecilia mit ihrer Familie Frieden schloß, würde er Abstand wahren, ohne beleidigt zu tun. Emily oder Jack würde er allerdings nie wieder nahestehen. Cecilias Mutter hatte sich mit seltsamem Nachdruck für seine Verurteilung eingesetzt, und Jack hatte sich von ihm abgekehrt, war, als er ihn gebraucht hatte, einfach in sein Ministerium verschwunden. All das schien unwichtig, einfach, jedenfalls von hier aus. Sie sahen weitere Leichen auf der Straße, in der Gosse und auf den Bürgersteigen, Dutzende, Soldaten und Zivilisten. Der Gestank war fürchterlich; er setzte sich in seinen Kleidern fest. Die Kolonne hatte ein zerbombtes Dorf erreicht, vielleicht auch die Außenbezirke einer kleinen Stadt – was genau, ließ sich nicht sagen, da nur Ruinen übrig waren. Wen kümmerte schon, was es gewesen war? Wer könnte das Chaos beschreiben, die Namen der Dörfer nennen, die Daten für die Geschichtsbücher festhalten? Wer vernünftige Ansichten vertreten und Schuld zuweisen? Niemand würde je erfahren, wie es war, dabeizusein. Ohne Einzelheiten konnte es kein vollständiges Bild geben. Verlassene Geschäfte säumten die reinste Schrottallee, verlassene Fahrzeuge und ausrangierte Ausrüstung versperrten ihnen fast den Weg. Deshalb, und wegen der Leichen, mußten sie mitten auf der Straße laufen. Das war nicht weiter schlimm, denn der Flüchtlingsstrom bewegte sich sowieso nicht mehr. Soldaten sprangen von Truppentransportern und gingen zu Fuß weiter, stolperten über Steine und Dachziegel. Die Verwundeten ließ man auf den Lastern liegen. Wo es enger wurde, war das Gedränge, die Gereiztheit größer. Turner hielt den Kopf gesenkt, folgte dem Mann vor ihm, verschanzte sich hinter seinen Gedanken.
Seine Unschuld würde bewiesen werden. Von hier aus, wo man sich kaum die Mühe machte, den Fuß zu heben, um nicht auf den Arm einer toten Frau zu treten, schien es ihm unwahrscheinlich, daß er Entschuldigungen oder Ehrbezeugungen brauchte. Schuldlosigkeit würde ein reiner Zustand sein. Wie ein Liebhaber erträumte er ihn sich mit schlichter Sehnsucht. Er träumte davon, wie andere Soldaten von Heim und Herd oder ihren alten, zivilen Beschäftigungen träumten. Und wenn Unschuld hier so wesentlich schien, gab es keinen Grund, warum es daheim in England nicht auch so sein sollte. War sein Name erst reingewaschen, konnten die anderen ihre Ansichten korrigieren. Er hatte seine Zeit abgesessen, sollten sie jetzt das Ihre tun. Seine Aufgabe aber war klar und einfach. Cecilia finden, sie lieben, sie heiraten und unbescholten mit ihr leben. Doch da gab es etwas, das er sich nicht vorstellen konnte, eine undeutliche Gestalt, die auch im Trümmerfeld neunzehn Kilometer vor Dünkirchen keine klare Kontur erhielt. Briony. Hier geriet er an die äußerste Grenze dessen, was Cecilia seine Großmut genannt hatte. Und an den Rand seiner Vernunft. Falls Cecilia sich wieder mit ihrer Familie vertrug, falls die Schwestern sich wieder anfreundeten, würde er sie nicht länger meiden können. Doch konnte er sich mit ihr abfinden? Konnte er sich in einem Zimmer mit ihr aufhalten? Mit ihr, die ihm die Hoffnung auf Lossprechung anbot? Doch die war nicht für ihn. Er hatte nichts Unrechtes getan. Die Lossprechung galt allein ihr selbst, ihrem eigenen Verbrechen, unter dem ihr Gewissen nicht länger leiden wollte. Sollte er dafür dankbar sein? Ja, natürlich,
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