Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
beiseite gedrängten Tommies und riefen ihren Alliierten spöttisch »Maginot!« hinterher. Diepoilus ihrerseits hatten Gerüchte über eine Evakuierung gehört. Und jetzt waren sie auch noch zur Rückendeckung abkommandiert worden. »Feiglinge! Zu den Schiffen! Macht euch doch in die Hosen!« Dann waren sie fort, und die Menge schloß sich in der Dieselwolke wieder und marschierte weiter.
Sie näherten sich den letzten Häusern im Dorf. Auf den angrenzenden Feldern sah er einen Mann mit seinem Collie hinter einem Pflug herstapfen, der von einem Pferd gezogen wurde. Wie die Frauen im Schuhgeschäft schien der Bauer die Marschkolonne überhaupt nicht zu bemerken. Ihre Leben wurden parallel gelebt – Krieg war ein Hobby für Enthusiasten, wenn auch deshalb nicht weniger ernst zu nehmen. So wie etwa Hunde die Fuchsjagd tödlich ernst nahmen, während hinter der nächsten Hecke eine Frau auf dem Rücksitz eines vorbeifahrenden Autos selbstvergessen strickte und im kahlen Garten eines neuen Hauses ein Mann seinem Sohn beibrachte, wie man Fußball spielte. Das Pflügen würde weitergehen, und es würde eine Ernte geben, jemanden, der das Korn einfuhr und mahlte, andere, die es verzehrten, und nicht alle würden tot sein…
Daran dachte Turner, als Nettle ihn beim Arm packte und nach oben zeigte. Der von der französischen Einheit verursachte Aufruhr hatte das Geräusch ihrer Motoren übertönt, aber sie ließen sich mühelos erkennen. Es waren mindestens fünfzehn, gut dreitausend Meter hoch, kleine Punkte am blauen Himmel, die über der Straße kreisten. Turner und die Unteroffiziere blieben stehen, und alle in ihrer Nähe sahen sie ebenfalls. Irgendeine erschöpfte Stimme murmelte nah an seinem Ohr: »Verflucht noch mal! Und wo ist die Royal Air Force?« Eine andere Stimme meinte vielsagend: »Die knöpfen sich die Franzmänner vor.«
Doch als reizte es ihn, das Gegenteil zu beweisen, löste sich einer der Tüpfel und setzte unmittelbar über ihren Köpfen zu einem fast senkrechten Sturzflug an. Sekundenlang hörten sie keinen Ton. Die Stille schien zu einem Druck auf ihren Ohren anzuwachsen. Und selbst das laute Geschrei, das entlang der Straße aufbrandete, konnte diesen Druck nicht lindern. Dekkung! Auseinander! Auseinander! Marsch, marsch!
Jede Bewegung fiel schwer. Er konnte sich langsam voranschleppen, und er konnte stehenbleiben, aber es kostete ihn Kraft, Verstandeskraft, sich an halb vergessene Befehle zu erinnern, sich umzudrehen und von der Straße fortzulaufen. Sie hatten beim letzten Haus im Dorf haltgemacht. Hinter dem Haus stand eine Scheune, auf beiden Seiten von dem Feld flankiert, auf dem der Bauer gepflügt hatte. Jetzt suchte er mit seinem Hund Schutz unter einem Baum, als warte er einen Regenschauer ab. Sein immer noch aufgezäumtes Pferd graste auf dem ungepflügten Ackerstreifen. Soldaten und Zivilisten spritzten in alle Richtungen von der Straße. Eine Frau mit einem weinenden Kind rannte an ihm vorbei, änderte dann ihre Meinung, kam zurück, blieb am Straßenrand stehen und schaute unentschlossen mal in die eine, dann in die andere Richtung. Wohin? Zum Bauernhof oder aufs Feld? Ihre Reglosigkeit befreite ihn aus seiner Starre. Als er sie an der Schulter auf das Tor zuschob, hörten sie das Heulen der Jerichosirenen. Alpträume waren zu einer eigenen Wissenschaft geworden. Irgend jemand, auch nur ein Mensch, hatte die Zeit aufgewandt, sich dieses satanische Heulen auszudenken. Und mit welchem Erfolg! Es war das Geräusch der Panik schlechthin, das lauter und lauter wurde und jenem Untergang entgegenstrebte, der, wie sie alle, wie jeder einzelne von ihnen wußte, sie jetzt erwartete. Es war ein Geräusch, das man einfach persönlich nehmen mußte. Turner schob die Frau durch das Tor. Er wollte, daß sie mit ihm auf das Feld lief. Er hatte sie berührt, hatte eine Entscheidung für sie getroffen, und deshalb meinte er, sie nicht im Stich lassen zu dürfen. Doch der Junge war mindestens sechs Jahre alt und schwer; gemeinsam kamen sie kaum voran. Er riß ihr das Kind aus den Armen. »Kommen Sie«, schrie er. Ein Stuka hatte eine einzige Fünfhundert-Kilo-Bombe an Bord, deshalb mußte man sich möglichst weit von Gebäuden, Fahrzeugen und anderen Menschen fernhalten. Der Pilot würde seine kostbare Fracht nicht für eine einsame Gestalt auf einem Feld verschwenden. Wenn er allerdings umkehrte, um im Tiefflug zu jagen, war das etwas anderes. Turner hatte schon erlebt, wie sie nur zum Spaß auf einen

Weitere Kostenlose Bücher