McEwan Ian
ihn auf die Probe, aber er war viel zu gewieft und wachsam, um dieser Herausforderung auszuweichen. Er war ein alter Hase. So kurz vor der Heimat tappte er doch in keine Falle mehr. Trotzdem sollte er lieber vorsichtig sein.
»Wir holen ihr das Schwein«, sagte er zu Nettle. »Dauert doch nur eine Minute.«
Nettle war es seit langem gewohnt, Turners Ratschläge zu befolgen, da sie sich meist als vernünftig erwiesen hatten, aber als sie die Gasse hinaufgingen, brummte er: »Irgendwas stimmt nicht mit dir, Boss.«
Ihre Blasen machten ihnen zu schaffen, die Sau aber war jung, schnell, und sie genoß ihre Freiheit. Außerdem hatte Nettle Angst vor ihr. Als sie das Tier vor einem Ladeneingang in die Enge getrieben hatten, rannte es plötzlich auf ihn zu, und mit einem Schrei, der keineswegs nur gespielt klang, sprang er zur Seite. Turner ging zurück zu der Frau, um sie um ein Seil zu bitten, aber niemand kam an die Tür, außerdem war er sich auch nicht sicher, ob er wirklich vor dem richtigen Haus stand. Dafür wußte er jetzt genau, daß sie nie wieder nach Hause zurückkehren würden, wenn es ihnen nicht gelang, das Schwein einzufangen. Er ahnte, daß sein Fieber wieder gestiegen war, aber deshalb hatte er noch lange nicht unrecht. Das Schwein bedeutete Glück. Als Kind hatte sich Turner einmal einzureden versucht, daß es Unsinn sei, den plötzlichen Tod seiner Mutter dadurch verhindern zu wollen, daß er nicht auf die Ritzen zwischen den Fliesen auf dem Schulspielplatz trat. Aber er war nicht darauf getreten, und sie war nicht gestorben.
Sie liefen die Gasse hinauf, doch das Schwein entwischte ihnen immer wieder aufs neue.
»Scheiße«, sagte Nettle, »ich kann einfach nicht glauben, was wir hier tun.«
Ihnen blieb keine Wahl. Als sie einen umgestürzten Telegraphenmast entdeckten, schnitt Turner ein Stück Kabel ab und knüpfte sich daraus eine Schlinge. Sie folgten der Sau über eine Straße, die aus dem Badeort hinausführte. Vor jedem Haus lag ein kleiner, umzäunter Garten. Also gingen sie hin und machten auf beiden Seiten entlang der ganzen Straße jedes Gartentor auf. Dann hasteten sie durch eine Seitenstraße, überholten das Schwein und trieben es den Weg zurück, den es gerade gekommen war. Wie sie gehofft hatten, lief es bald in einen Garten und begann dort, die Erde aufzuwühlen. Turner schloß das Gartentor, beugte sich über den Zaun und warf dem Schwein die Schlinge über.
Es kostete sie ihre letzte Kraft, die quiekende Sau zurückzuzerren. Wenigstens wußte Nettle noch, wo die Frau wohnte. Als sie das Tier endlich wohlbehalten in seinem winzigen Verschlag im Garten untergebracht hatten, setzte ihnen die alte Frau zwei Steinkrüge Wasser vor und sah ihnen zu, wie sie selig in dem kleinen Hof vor der Küchentür standen und tranken. Selbst als ihre Bäuche zu platzen drohten, verlangten ihre Gaumen noch mehr, und sie tranken immer weiter. Schließlich brachte ihnen die Frau Seife, Handtücher und zwei Emailleschüsseln, in denen sie sich waschen konnten. Von Turners heißem Gesicht färbte sich das Wasser rostrot. Zufrieden merkte er, wie sich das getrocknete Blut, das wie Schorf auf seiner Oberlippe geklebt hatte, in einem Stück von der Haut löste. Als er fertig war, meinte er eine angenehme Leichtigkeit in der Luft um ihn herum zu spüren, die seidenweich über seine Haut strich und sanft durch seine Nase strömte. Mit dem schmutzigen Wasser gössen sie das Löwenmaul, und Nettle sagte, bei diesem Anblick überkomme ihn Heimweh nach dem Garten seiner Eltern. Die Zigeunerin füllte ihre Feldflaschen auf, gab jedem außerdem noch eine Flasche Wein, die Korken halb herausgezogen, und eine Wurst, die sie in den Provianttaschen verstauten. Als sie sich schon verabschieden Wolken, fiel ihr noch etwas ein, und sie lief noch einmal insHaus. Sie kam mit zwei kleinen Papiertüten wieder, in jeder ein halbes Dutzend gezuckerter Mandeln.
Feierlich reichten sie sich die Hände.
»Unser Leben lang werden wir Ihre Freundlichkeit nicht vergessen«, sagte Turner.
Sie nickte, und er meinte zu hören, wie sie ihm antwortete: »Mein Schwein wird mich immer an euch erinnern.« Dabei schaute sie ihn mit unverändert ernster Miene an, so daß er nicht zu sagen gewußt hätte, ob ihre Bemerkung eine Beleidigung war, ein Witz oder eine versteckte Botschaft. Glaubte sie tatsächlich, daß sie ihre Freundlichkeit nicht verdient hatten? Verlegen wich er zurück, und kurz darauf waren sie wieder auf der Straße, und er
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