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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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hinzu, die auf einen schmiedeeisernen Balkon hinausging, um dessen Geländer sich Glyzinien wanden, ein Grammophon auf einem runden Tisch mit einem grünen Chenilletuch und eine Chaiselongue, über der eine Perserdecke lag. Je ausführlicher er ihn beschrieb, um so überzeugter war er, daß der Raum gleich hier in ihrer Nähe war. Seine Worte beschworen ihn herauf.
Nettles Vorderzähne gruben sich in seine Unterlippe, als er Turner mit dem gutherzigen Blick eines erstaunten Nagers betrachtete, ihn ausreden ließ und dann sagte: »Ich hab’s gewußt, verdammt, ich hab’s gewußt.«
Sie standen vor einem zerbombten Haus, dessen Keller zur Hälfte unter freiem Himmel lag und wie eine gigantische Höhle aussah. Nettle packte Turner, zog ihn an der Jacke über die Trümmer einer geborstenen Ziegelmauer und führte ihn vorsichtig über den Kellerboden ins Dunkle. Turner wußte, daß dies nicht der richtige Ort war, konnte Nettles ungewohnter Entschlossenheit aber nichts entgegensetzen. Vor ihnen tauchte ein Lichtpunkt auf, dann noch einer, gleich darauf ein dritter. Die Zigaretten der Männer, die hier bereits Zuflucht gefunden hatten.
Eine Stimme sagte: »Mann, verschwindet. Hier ist besetzt.« Nettle riß ein Streichholz an und hielt es hoch. Überall waren Männer, halb sitzend an die Wände gelehnt, die meisten schliefen. Einige lagen mitten im Keller, aber es gab noch Platz, und als das Streichholz erlosch, legte Nettle ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn sanft zu Boden. Als er den Schutt unter seinem Hintern beiseite schob, spürte Turner, wie feucht sein Hemd war. Wahrscheinlich Blut, vielleicht aber auch irgendwas anderes, im Moment hatte er jedenfalls keine Schmerzen. Nettle legte Turner den Militärmantel um. Jetzt, da er endlich die Füße von sich strecken konnte, fühlte er eine ungeheure Erleichterung in seinen Beinen aufsteigen, und er wußte, selbst wenn Nettle noch so enttäuscht sein würde, konnte er heute keinen Schritt mehr tun. Die schaukelnde Bewegung tagelangen Marschierens übertrug sich auf den Boden. In der völligen Dunkelheit spürte Turner, wie es unter ihm taumelte und schwankte. Die Frage war bloß, wie man hier etwas essen wollte, ohne daß die anderen über einen herfielen. Überleben bedeutete egoistisch sein. Doch erst mal tat er nichts und dachte auch an nichts. Nach einer Weile knuffte Nettle ihn wach und schob ihm die Flasche in die Hand. Er legte den Mund an die Öffnung, kippte die Flasche und trank. Jemand hörte ihn schlucken. »Was trinkste denn da?«
»Schafsmilch«, sagte Nettle. »Noch warm. Willste?« Man hörte einen würgenden Laut, und etwas Lauwarmes, Glibberiges landete auf Turners Hand. »Ist ja widerlich.«
Eine andere Stimme forderte in drohenderem Ton: »Haltet das Maul. Ich versuch zu schlafen.«
Lautlos langte Nettle nach seinem Proviantbeutel, fischte die Wurst heraus, teilte sie in drei Teile und reichte ihm ein Stück zusammen mit etwas Brot. Turner streckte sich der Länge nach auf dem Betonboden aus, zog sich den Militärmantel über den Kopf, damit man die Wurst nicht riechen und sein Kauen nicht hören konnte, und im Mief seines eigenen Atems genoß er, während sich Schutt und Bruchgestein in seine Wange bohrten, das beste Essen seines Lebens. Auf seinem Gesicht lag ein Duft nach Seife. Er biß vom Brot ab, das nach Militärplane roch, mummelte und nuckelte an der Wurst. Und als die Nahrung seinen Magen erreichte, kroch ein warmes Gefühl über die Brust bis hinauf zum Hals. Ihm war, als wäre er sein Leben lang über diese Straßen gelaufen. Wenn er die Augen schloß, sah er Asphalt unter sich vorüberziehen, und die Stiefel schwangen abwechselnd in den Blick. Er kaute und versank sekundenlang in Schlaf. Eine andere Zeitspanne tat sich vor ihm auf; jetzt schmiegte sich seine Zunge um eine gezuckerte Mandel, so süß, daß sie einer anderen Welt anzugehören schien. Als er hörte, wie die Männer sich über die Kälte im Keller beklagten, war er froh über den Mantel, unter dem er lag, und dachte mit väterlichem Stolz daran, daß er die Unteroffiziere davon abgehalten hatte, ihre Mäntel fortzuwerfen.
Auf der Suche nach einem Unterschlupf kam ein Trupp Soldaten herein und zündete Streichhölzer an, genau wie er und Nettle es getan hatten. Turner fand sie aufdringlich, der Dialekt der West Countys störte ihn. Wie alle übrigen Kellerinsassen wollte er nur, daß sie wieder verschwanden. Doch irgendwo vor seinen Füßen fanden sie noch Platz.

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