McEwan Ian
was unwillkürlich Brionys Mißtrauen weckte, doch war Fiona im Gegensatz zu Lola laut und lebenslustig, hatte Grübchen auf dem Handrücken und einen enormen Busen, der die anderen Mädchen zu der Bemerkung veranlaßte, daß ihr gar nichts anderes übrigbliebe, als eines Tages Stationsschwester zu werden. Fionas Familie wohnte in Chelsea. Eines Abends flüsterte sie aus ihrem Bett herüber, daß man ihren Vater vermutlich bitten werde, Churchills Kriegskabinett beizutreten. Als aber die Kabinettsmitglieder vorgestellt wurden, stimmten die Nachnamen nicht überein. Fiona verlor kein Wort darüber, und Briony hielt es folglich für besser, nicht weiter nachzufragen. In den ersten Monaten nach dem Einführungskurs blieb Fiona und Briony kaum Gelegenheit herauszufinden, ob sie sich tatsächlich mochten. Jedenfalls war es praktisch, einfach davon auszugehen. Außerdem gehörten sie beide zu den wenigen Mädchen, die über keinerlei medizinische Vorbildung verfügten; die anderen hatten entweder schon einen Erste-Hilfe-Kurs mitgemacht oder ein Praktikum im Krankenhaus geleistet, so daß sie mit Blut und Leichen längst vertraut waren – wenigstens behaupteten sie das.
Doch Freundschaften waren nicht leicht zu pflegen. Die Lernschwestern taten Dienst auf den Stationen, büffelten anschließend mindestens drei Stunden und fielen dann ins Bett. Die Teezeit zwischen vier und fünf war für sie der reinste Luxus. Dann nahmen sie aus den Bretterregalen die winzigen, braunen Teekannen, auf denen ihre Namen standen, und setzten sich in den kleinen Aufenthaltsraum der Station. Die Atmosphäre war meist ziemlich verkrampft, da die Heimschwester Aufsicht führte und für Anstand und Ordnung sorgte. Außerdem hatten sie sich kaum hingesetzt, da hüllte die Müdigkeit sie wie eine dreifache Decke ein. Eine von ihnen, Tasse und Untertasse in der Hand, schlief einmal sogar ein und verbrühte sich den Schenkel - eine ausgezeichnete Gelegenheit, so die vom Geschrei angelockte Schwester Drummond, um die Behandlung von Brandwunden zu üben.
Überhaupt stand die Stationsschwester jeglicher Freundschaft im Wege. In diesen ersten Monaten dachte Briony oft, daß sie allein mit Schwester Drummond eine Beziehung verband. Sie war immerzu da, in dem einen Moment kam sie vom Ende des Flurs mit furchteinflößender Zielstrebigkeit auf Briony zu, im nächsten stand sie hinter ihr und murmelte ihr ins Ohr, sie habe offenbar im Vorbereitungskurs versäumt, auf das korrekte Vorgehen beim Baden männlicher Patienten zu achten: Erst nachdem das Badewasser ein zweites Mal erneuert worden sei, müsse dem Patienten der frisch eingeseifte Waschlappen und das Handtuch ausgehändigt werden, damit er allein »fertigmachen« könne. Brionys Verfassung hing vor allem davon ab, wie sie diese Stunde in den Augen der Stationsschwester bewältigte. Und jedesmal, wenn Schwester Drummonds Blick auf sie fiel, spürte sie, wie eine eisige Kälte sich in ihrem Magen ausbreitete. Es ließ sich unmöglich sagen, ob sie sich gut gehalten hatte. Briony fürchtete Schwester Drummonds Kritik. Ein Lob war undenkbar; im besten Falle durfte man mit Gleichgültigkeit rechnen.
In den wenigen Augenblicken, die sie für sich hatte, meist einige Minuten im Dunkeln kurz vor dem Einschlafen, dachte Briony an ihr gespenstisches Parallelleben, in dem sie in Girton studierte und Milton las. Sie hätte aufs College ihrer Schwester statt ins Krankenhaus ihrer Schwester gehen können, doch Briony meinte, so ihren Teil zu den Kriegsanstrengungen beitragen zu können. Tatsächlich aber hatte sie ihr Leben auf die Beziehung zu einer um fünfzehn Jahre älteren Frau beschränkt, deren Macht über sie größer war als die einer Mutter über ihr Kind.
Diese Beschränkung, die sie allmählich ihre eigene Identität verlieren ließ, begann schon Wochen vorher, noch ehe sie überhaupt von Stationsschwester Drummond gehört hatte. Es geschah am ersten Tag ihres zweimonatigen Einführungskurses, und Brionys Demütigung vor der ganzen Klasse war überaus lehrreich gewesen. So würde es von nun an immer sein. Sie hatte die Lehrschwester angesprochen und höflich auf einen Fehler auf ihrem Namensschild hingewiesen. Sie sei B. Tallis und nicht, wie es auf der kleinen, rechteckigen Spange stand, S. Tallis.
Die lakonische Antwort lautete: »Sie sind – und werden bleiben –, was auf diesem Schild steht. Ihr Vorname interessiert mich nicht im geringsten. Und jetzt setzen Sie sich bitte wieder hin, Schwester
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