McEwan Ian
Und sie fürchteten sich ausnahmslos vor Stationsschwester Marjorie Drummond und dem tückischen, feinen Lächeln, das ihre Wutausbrüche ankündigte. Briony wußte, daß sie sich in letzter Zeit eine Reihe von Fehlern geleistet hatte. Vor vier Tagen erst hatte eine ihrer Patientinnen trotz genauer Anweisungen die karbolhaltige Mundspülung in einem Zug ausgetrunken – einem Krankenträger zufolge, der sie dabei beobachtet hatte, hatte sie die Lösung wie ein Guinness in sich hineingekippt – und sich dann quer übers Bett erbrochen. Briony war sich außerdem bewußt, daß sie von Stationsschwester Drummond gesehen worden war, wie sie gerade mal drei Bettpfannen getragen hatte, obwohl doch inzwischen von ihnen erwartet wurde, daß sie behend wie eifrige Kellnerinnen im La. Coupole mit sechs Pfannen über den Flur eilen konnten. Möglicherweise waren ihr noch weitere Fehler unterlaufen, die sie vor lauter Müdigkeit wieder vergessen oder gar nicht erst bemerkt hatte. So neigte sie zu einer fehlerhaften Körperhaltung – in unachtsamen Augenblicken verlagerte sie gern das Gewicht auf nur einen ihrer Füße, worüber sich ihre Vorgesetzte ganz besonders aufregen konnte. Weitere Nachlässigkeiten und Verstöße sammelten sich wie von selbst über mehrere Tage an: ein Besen, der nicht an der richtigen Stelle stand, eine mit dem Etikett nach oben gefaltete Decke, ein gestärkter Kragen, kaum wahrnehmbar verrutscht, die Laufrollen der Bettgestelle, die nicht in einer Reihe ausgerichtet waren oder nach innen zeigten, und vielleicht war sie sogar einmal mit leeren Händen über den Flur gehastet – alles wurde stillschweigend registriert, bis das Maß voll war, und dann brach, hatte man die Zeichen nicht rechtzeitig erkannt, der Sturm mit urplötzlicher Gewalt über einen herein. Meist gerade dann, wenn man glaubte, sich eigentlich ganz gut zu halten.
Doch in letzter Zeit bedachte die Schwester ihre Zöglinge nur selten mit einem freudlosen Lächeln und sprach auch kaum noch in jenem gedämpften Ton zu ihnen, der sie in solche Schrecken versetzte. Eigentlich kümmerte sie sich so gut wie gar nicht mehr um die Lernschwestern. Ihr gingen andere Dinge durch den Kopf, und oft stand sie im Innenhof vor dem MännerOP in lange Gespräche mit ihren Kollegen vertieft, oder sie verschwand gleich für zwei Tage oder länger.
Andernorts, in einem anderen Beruf, hätte Schwester Drummonds pummeliges Aussehen sie mütterlich, vielleicht sogar sinnlich wirken lassen, besaßen ihre ungeschminkten Lippen nebst adrettem Schwung doch einen kräftigen, natürlichen Farbton, und die runden Bäckchen mit den gesunden, rosigen Flecken einer Puppe schienen ein freundliches Gemüt zu verraten. Dieser Eindruck aber wurde frühzeitig zunichte gemacht, als eine Lernschwester aus Brionys Jahrgang, ein großes, treuherziges, eher betuliches Mädchen mit dem harmlosen Blick einer Kuh den vernichtenden Zorn der Stationsschwester auf sich zog. Lernschwester Langland war der chirurgischen Abteilung im Männertrakt zugeteilt worden und sollte einen jungen Soldaten auf eine Blinddarmoperation vorbereiten. Ein oder zwei Minuten mit ihm allein gelassen, schwatzte sie unbekümmert drauflos und machte einige tröstliche Bemerkungen über seine Operation. Dann hatte er wohl die naheliegende Frage gestellt, und sie hatte die heilige Regel gebrochen. Es stand klipp und klar im Handbuch, doch woher hätten sie wissen sollen, wie ungeheuer wichtig diese Vorschrift war? Stunden später kam der Soldat aus der Narkose zu sich und murmelte den Namen der Lernschwester, während die OP-Schwester noch in seiner Nähe stand. Lernschwester Langland wurde mit Schimpf und Schande auf ihre eigene Station zurückgesandt. Die übrigen Lernschwestern mußten sich im Kreis um sie aufstellen und aufmerksam achtgeben. Hätte die arme Susan Langland arglos oder in grausamer Absicht zwei Dutzend Patienten getötet, es hätte für sie kaum schlimmer kommen können. Als Stationsschwester Drummond sie zum Schluß noch eine Schande für die Schwesternschaft einer Florence Nightingale nannte und sagte, daß sie sich glücklich schätzen dürfe, einen Monat lang dreckige Bettwäsche zu sortieren, weinte außer Susan Langland auch die Hälfte aller Mädchen, die um sie herumstanden. Briony gehörte nicht dazu, aber abends im Bett nahm sie sich, immer noch ein wenig zitternd, das Handbuch wieder vor, um nachzulesen, ob es vielleicht noch andere Verhaltensregeln gab, die sie bislang übersehen
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