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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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die Hauptstraße ins Dorf führte. Alle zerbrechlichen Dinge lagerten nun im Keller, auch das Cembalo. Und die arme Betty hatte Onkel Clems Vase nach unten tragen wollen, doch sei sie ihr runtergefallen und auf den Stufen in tausend Stücke zerschellt. Sie behauptete, sie sei ihr in den Händen einfach auseinandergefallen, was doch ziemlich unglaubwürdig klang. Danny Hardman hatte sich zur Marine gemeldet, die übrigen Jungs aus dem Dorf waren alle zu den East Surreys gegangen. Jack arbeitete wirklich viel zuviel. Er hatte zu einer Sonderkonferenz gemußt und bei der Rückkehr ganz dünn und müde ausgesehen, dabei durfte er ihr nicht einmal sagen, wo er gewesen war. Über die Vase hatte er sich schrecklich aufgeregt und Betty sogar angeschrien, was doch sonst so gar nicht seine Art war. Zu guter Letzt hatte sie auch noch eine Lebensmittelkarte verloren, weshalb sie zwei Wochen ohne Zucker auskommen mußten. Die Mutter, der man im Red Lion Lokalverbot erteilt hatte, war ohne ihre Gasmaske angekommen, und nirgendwo ließ sich Ersatz auftreiben. Der Luftschutzwart, übrigens der Bruder von Wachtmeister Vockins, war nun schon zum dritten Mal aufgetaucht, um die Verdunklung zu inspizieren. Er benahm sich wie ein richtiger kleiner Diktator. Kein Mensch konnte ihn ausstehen.
Wenn sie diese Briefe am Ende eines anstrengenden Tages las, überkam Briony ein träumerisches Heimweh, eine unbestimmte Sehnsucht nach einem lang verlorenen Leben. Dabei konnte sie sich selbst kaum leid tun. Schließlich war sie diejenige, die sich von daheim löste. In der Urlaubswoche nach dem Einführungskurs und vor Ausbildungsbeginn hatte sie bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Primrose Hill gewohnt und den Bitten ihrer Mutter am Telefon widerstanden. Warum konnte Briony sie nicht besuchen, nicht einmal für einen Tag, wo alle sie so gern wiedersehen und unbedingt etwas über ihr neues Leben erfahren wollten? Und warum schrieb sie so selten? Es war schwierig, darauf eine direkte Antwort zu geben. Vorläufig war es jedenfalls notwendig, sich von zu Hause fernzuhalten.
    In der Schublade ihres Nachtschränkchens bewahrte Briony ein großes Notizbuch mit einem marmorierten Kartoneinband auf. An den Buchrücken war ein Stück Schnur geklebt, und daran hing ein Bleistift. Füllfederhalter waren im Bett nicht erlaubt. Am Ende des ersten Tages ihres Einführungskurses begann sie mit ihren Notizen und schaffte es an den meisten Abenden, wenigstens zehn Minuten zu schreiben, ehe das Licht ausging. Zu ihren Einträgen gehörten künstlerische Grundsatzerklärungen, banale Beschwerden, Charakterskizzen und schlichte Berichte über den Tagesablauf, die jedoch immer stärker ins Phantastische abglitten. Sie las fast nie durch, was sie geschrieben hatte, blätterte aber gern die beschriebenen Seiten auf. Hier drin, hinter ihrem Namensschild und unter der Uniform, verbarg sich ihr wahres Ich, heimlich gehortet, im stillen angesammelt. Sie hatte das kindliche Vergnügen nie ganz verloren, mit dem sie die mit eigener Handschrift bedeckten Blätter betrachtete. Was sie schrieb, war eigentlich fast egal. Da die Schublade nicht abgeschlossen werden konnte, achtete sie jedoch sorgsam darauf, ihre Beschreibungen von Stationsschwester Drummond zu kaschieren. Sie änderte auch die Namen der Patienten. Und da sie die Namen ohnedies geändert hatte, fiel es ihr leicht, auch die Umstände abzuwandeln und frei zu erfinden. Genüßlich malte sie sich die Gedanken ihrer Figuren aus und fühlte sich dabei in keinster Weise zur Wahrheit verpflichtet, schließlich hatte sie niemandem eine Chronik versprochen. Dies hier war der einzige Ort, an dem sie frei sein konnte. Sie spann kleine Geschichten – nicht sonderlich überzeugend, ein wenig zu schwülstig – um die Leute auf der Station. Eine Zeitlang hielt sie sich gar für den weiblichen Chaucer der Medizin, auf deren Station es von den wundersamsten Typen wimmelte: komische Käuze, Schnapsdrosseln, Tattergreise und nette Damen, die gräßliche Geheimnisse preiszugeben hatten. In späteren Jahren sollte sie bedauern, sich nicht stärker an die Fakten gehalten, sich nicht mit einem Vorrat an Rohmaterial versorgt zu haben. Es wäre so nützlich gewesen, wenn sie gewußt hätte, was genau geschehen war, wie es eigentlich ausgesehen hatte, wer dort gewesen war und was er gesagt hatte. Zu seiner Zeit jedoch hatte das Tagebuch ihre Würde bewahrt: Sie mochte aussehen, sich benehmen und leben wie eine Lernschwester, aber eigentlich

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