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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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hatte. Und sie las und lernte die Vorschrift auswendig: Unter keinen Umständen darf eine Krankenschwester einem Patienten ihren Vornamen nennen.
Die Stationen wurden leerer, aber die Arbeit nahm zu. Jeden Morgen wurden die Betten in die Mitte geschoben, damit die Lernschwestern den Boden mit dem mächtigen Bohnerbesen polieren konnten, der so schwer war, daß ein Mädchen allein ihn kaum hin und her zu schwingen vermochte. Dreimal am Tag wurden die Böden gewischt. Die ausgeräumten Spinde wurden geschrubbt, Matratzen ausgeräuchert, die Kleiderhaken aus Messing, Türknäufe und Schließbleche wurden gewienert. Sämtliches Holz – Türblätter und Fußbodenleisten – wurde mit einer Karbollösung abgewaschen, nicht anders als die Betten, ihre eisernen Gestelle ebenso wie die Stahlfedern. Die jungen Frauen wuschen, putzten und trockneten Bettpfannen und Urinflaschen, bis sie wie edles Eßgeschirr glänzten. Dreitonner der Armee fuhren in die Ladebuchten und brachten noch mehr Betten, dreckige, alte Dinger, die viele Male gescheuert werden mußten, ehe sie auf die Station gebracht, in die Reihen gezwängt und mit Karbol abgewaschen werden konnten. Zwischen diesen Aufgaben schrubbten sich die Lernschwestern bestimmt ein Dutzend mal am Tag ihre aufgeplatzten, blutenden, mit Frostbeulen übersäten Hände unter eiskaltem Wasser. Der Krieg gegen die Bazillen fand kein Ende. Die Auszubildenden wurden in den Hygienekult eingeführt. Sie begriffen, daß es nichts Verwerflicheres als die Staubflocke einer Tagesdecke gab, die sich unter einem Bett versteckte und ein Bataillon, eine ganze Division von Bakterien in sich barg. Ihr tägliches Tun, das Kochen, Schrubben, Polieren und Wischen, wurde für die Lernschwestern zum Inbegriff ihres beruflichen Stolzes, dem jegliche Bequemlichkeit geopfert werden mußte. Die Krankenträger brachten aus den Ladebuchten große Mengen neuer Vorräte, die ausgepackt, registriert und verstaut werden mußten – Verbandsrollen, Nierenschalen, Spritzen, drei neue Sterilisatoren und viele Kisten, auf denen »Bunyanbeutel« stand, deren Verwendungszweck ihnen noch nicht erklärt worden war. Ein zusätzlicher Medizinschrank wurde aufgestellt und eingeräumt, nachdem sie ihn dreimal gründlich geschrubbt hatten. Er blieb verschlossen, und den Schlüssel hatte Stationsschwester Drummond, doch konnte Briony eines Morgens sehen, daß er reihenweise Fläschchen enthielt, die mit »Morphium« beschriftet waren. Wenn sie auf andere Stationen kam, stellte sie fest, daß man sich dort gleichermaßen vorbereitete. In einer Abteilung gab es schon keine Patienten mehr, und sie blitzte in geräumiger Stille vor sich hin und wartete. Doch stand es den Lernschwestern nicht an, Fragen zu stellen. Bereits im Vorjahr waren gleich nach der Kriegserklärung die oberen Stationen zum Schutz vor möglichen Bombenangriffen geschlossen worden. Die Operationsräume lagen nun im Keller. Außerdem hatte man die ebenerdigen Fenster mit Sandsäcken verbarrikadiert und sämtliche Oberlichter zubetoniert. Ein Armeegeneral inspizierte mit einem halben Dutzend Chefärzten das Krankenhaus. Es gab keinen festlichen Empfang, es herrschte nicht mal Stille, als sie kamen. Gewöhnlich mußten bei solch wichtigen Besuchen, so wurde erzählt, die Nasen aller Patienten exakt an der Mittelfalte der Bettdecke ausgerichtet werden, aber ihnen war keine Zeit geblieben, irgendwas vorzubereiten. Der General schritt mitsamt seinem Gefolge die Station ab, murmelte, nickte, und dann waren sie wieder verschwunden.
Das Unbehagen wuchs, doch blieb ihnen nur wenig Zeit zu Spekulationen, die ohnedies nicht erwünscht waren. Wenn die Lernschwestern keinen Dienst hatten, absolvierten sie Unterrichtsstunden, Vorlesungen und Praxiskurse, oder sie lernten für sich allein. Essenszeiten und Schlafenszeiten wurden so peinlich genau überwacht wie bei Neulingen im Internat Roedean. Als Fiona, die mit Briony auf einem Zimmer schlief, ihren Teller von sich schob und verkündete, daß sie »klinisch unfähig« sei, mit Maggi gewürztes Gemüse zu essen, blieb die Heimschwester neben ihr stehen, bis sie den letzten Bissen runtergeschluckt hatte. Die Umstände machten Fiona zu Brionys Freundin: Am ersten Abend des Einführungskurses bat sie Briony, ihr die Fingernägel der rechten Hand zu schneiden, und erklärte, daß sie mit links keine Schere halten könne; außerdem habe ihr bislang stets ihre Mutter diesen Gefallen getan. Sie hatte rotes Haar und Sommersprossen,

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