Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
Tallis.«
Die übrigen Mädchen hätten gelacht, wenn sie es denn gewagt hätten, da auf all ihren Namensschildern dasselbe Initial stand, doch nahmen sie zu Recht an, daß sie sich diese Freiheit nicht herausnehmen durften. Es war die Zeit, in der sie alles Notwendige über Hygiene erfuhren und das Decken-Baden an lebensgroßen Modellen übten – an Mrs. Mackintosh, Lady Chase und Baby George, dessen ausdrucksloses, leicht defektes Gesicht es ihm gestattete, sich wahlweise auch als Mädchen auszugeben. Es war die Zeit, in der sie unbedingten Gehorsam übten, lernten, Bettpfannen stapelweise zu tragen, und sich eine grundlegende Regel einprägten: Geh niemals über den Flur, ohne etwas in Händen zu halten. Körperlicher Schmerz half, Brionys geistigen Horizont zu verengen. Die hohen, gestärkten Kragen scheuerten die Haut am Hals auf. Da sie sich die Hände Dutzende Male am Tag unter eisigem Wasser mit einem Stück Sodaseife wusch, hatte sie bald ihre ersten Frostbeulen. Die Schuhe, die sie von ihrem eigenen Geld kaufen mußte, waren an den Zehen viel zu eng. Die Uniform aber untergrub wie alle Uniformen die Identität, und die Pflege, die sie ihr täglich abverlangte – Falten mußten gebügelt, Hüte festgesteckt, der Saum geradegezupft, Schuhe, besonders die Hakken, geputzt werden –, drängte allmählich alle anderen Interessen in den Hintergrund. Als die Mädchen schließlich so weit waren, daß sie ihre Ausbildung als Lernschwestern beginnen und die Arbeit unter Stationsschwester Drummond aufnehmen konnten, um sich ganz der täglichen Routine von »Bettpfanne bis Bananenbrei« zu widmen, verschwammen ihnen in der Erinnerung bereits ihre früheren Leben. Ihr Verstand war gewissermaßen ausgeräumt worden, die Abwehr geschwächt, so daß sie leicht von der absoluten Autorität der Stationsschwester überzeugt werden konnten, und als diese begann, ihre leeren Köpfe zu füllen, vermochten sie ihr keinerlei Widerstand mehr zu bieten. Es wurde niemals ausgesprochen, doch das Modell, das diesem Prozeß zugrunde lag, war vom Militär vorgegeben. Miss Nightingale, die unter keinen Umständen Florence genannt werden durfte, hatte lange genug auf der Krim geweilt, um die Bedeutung von Disziplin, festen Befehlsstrukturen und gut trainierten Truppen zu schätzen zu wissen. Wenn Briony im Dunkeln lag und hörte, wie die auf dem Rücken schlafende Fiona ihr allnächtliches Schnarchkonzert begann, spürte sie, daß sich ihr paralleles Leben - das sie sich ohne weiteres vorstellen konnte, da sie Leon und Cecilia in Kindertagen oft genug in Cambridge besucht hatte – mehr und mehr von ihrem jetzigen Leben entfernte. Dies hier war ihre Studentenzeit, diese vier Jahre, dieses allumfassende Regime, und sie besaß weder die Absicht noch die Freiheit, etwas daran zu ändern. Sie überließ sich einem Leben voll harscher Kritik, strenger Regeln, Gehorsam, Hausarbeit und der steten Angst, Mißfallen zu erregen. Sie war eine unter vielen Lernschwestern – alle paar Monate traf ein neuer Schwung ein –, und außer ihrem Namensschild war ihr keine Identität geblieben. Hier gab es keine Tutorien, und niemand verbrachte eine schlaflose Nacht mit Sorgen um den genauen Verlauf ihrer intellektuellen Entwicklung. Sie leerte Bettpfannen aus und putzte sie, wischte und bohnerte den Boden, machte Kakao und Hühnerbrühe, holte dies, brachte jenes, und jegliche Selbstbesinnung blieb ihr erspart. Irgendwann in naher Zukunft – das wußte sie aus Gesprächen mit Lernschwestern aus dem zweiten Lehrjahr – würde sie anfangen, an ihrer Kompetenz ein gewisses Vergnügen zu finden. Einen Vorgeschmack hatte sie kürzlich davon erhalten, als man ihr die Aufgabe anvertraute, unter Aufsicht Puls und Temperatur zu messen und die Ergebnisse in eine Karte einzutragen. Was die medizinischen Behandlungen selbst betraf, so hatte sie immerhin bereits Gentianaviolett auf Grind aufgetupft, eine Schnittwunde mit einer Betaisodonasalbe behandelt und Bleisalbe auf eine Prellung aufgetragen. Doch in erster Linie war sie eine Gehilfin, eine Magd, die überdies in den freien Stunden noch simple Fakten paukte. Sie war froh, so wenig Zeit zum Nachdenken zu haben. Doch wenn sie abends, am Ende des Tages, im Nachthemd auf dem Treppenabsatz stand und über den Fluß auf die verdunkelte Stadt schaute, befiel sie wieder dieses Unbehagen, das dort unten in den Straßen weilte, so wie es hier auf den Stationen herrschte, und das die Düsternis selbst zu sein schien.

Weitere Kostenlose Bücher