Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
immer noch fühlen, genau wie die eiskalten Fesseln an den Handgelenken. Er und der Inspektor blieben am Wagen stehen und drehten sich um, als sie ihre Schritte hörten. Wie könnte er je das grüne Kleid vergessen, das sich eng um ihre Hüfte schmiegte, sie am Laufen hinderte und die schönen Schultern freigab. Weißer als der Nebel. Es überraschte ihn nicht, daß er mit ihr reden durfte. Er dachte nicht einmal darüber nach. Beide benahmen sie sich, als wären sie ganz allein. Sie wollte auf keinen Fall weinen, als sie ihm sagte, daß sie ihm glaubte, ihm vertraute, ihn liebte. Er sagte ihr bloß, daß er ihr dies nie vergessen werde, und wollte ihr damit zu verstehen geben, wie dankbar er war, vor allem damals, vor allem heute. Dann strich sie kurz mit einem Finger über die Handschellen und sagte, sie schäme sich nicht, es gebe nichts, wofür sie sich schämen müsse. Sie packte einen Zipfel seines Revers, schüttelte ihn, und das war der Moment, in dem sie sagte: »Ich warte auf dich. Komm zurück.« Sie meinte es ernst. Die Zeit würde zeigen, daß sie es ist meinte. Danach hatte man ihn ins Auto gedrängt, und sie hatte schnell gesprochen, bevor die Tränen kamen, die: nicht länger zurückhalten konnte, und sie sagte, es gehöre ihnen, was zwischen ihnen geschehen sei, ihnen allein. Sie meinte natürlich die Bibliothek. Dieser Augenblick gehörte ihnen. Den konnte ihnen niemand nehmen. »Das ist unser Geheimnis«, rief sie ihm vor allen anderen nach, und dann schlug die Wagentür zu.
    »Ich sage kein Wort«, murmelte er, doch Nettles Kopf war längst aus seinem Blick verschwunden. »Weck mich kurz vor sieben. Ich verspreche dir, du hörst kein Wort ich von mir.«

DRITTER TEIL
    D as Unbehagen erfaßte nicht nur das Krankenhaus. Es schien mit dem Wasser des reißenden, braunen Flusses anzusteigen, in den der Aprilregen niederging, um sich dann abends über die verdunkelte Stadt zu legen, als wäre es eine geistige Dämmerung, die das ganze Land erfaßte, ein unbemerktes, bösartiges Wuchern, das kaum vom späten, kühlen Frühling zu unterscheiden war, hinter dessen angenehmeren Seiten es sich so geschickt verbarg. Etwas ging zu Ende. Brionys Vorgesetzte, die auf den Gängen miteinander konferierten, teilten ein Geheimnis. Junge Ärzte schienen einen Kopf größer zu sein und schritten selbstsicherer aus, und der Chefarzt wirkte auf seiner Visite ein wenig abwesend. Eines Morgens trat er sogar ans Fenster, um minutenlang über den Fluß zu schauen, während in seinem Rücken die Schwestern bei den Betten warteten und sich nicht zu rühren wagten. Die älteren Krankenträger blickten bekümmert drein, wenn sie die Patienten abholten oder wieder auf die Stationen schoben, und schienen die flotten Kalauer aus den heiteren Rundfunksendungen vergessen zu haben, die ihnen sonst so leicht über die Lippen gekommen waren. Vielleicht hätte Briony es inzwischen sogar tröstlich gefunden, wenn sie den Spruch wieder gehört hätte, den sie eigentlich verachtete – Kopf hoch, Kleines, vielleicht kommt’s nie dazu. Aber offenbar kam es doch dazu. Das Krankenhaus war leerer geworden, unmerklich beinahe, über viele Tage hinweg. Anfangs schien es reiner Zufall zu sein, eine Gesundheitsepidemie, die nicht allzu erfahrene Pflegerinnen ihren wachsenden Lernerfolgen zuschreiben mochten. Erst nach und nach begann man zu ahnen, daß dahinter ein System steckte. Die Zahl der leeren Betten auf den Stationen wuchs, als griffe Nacht für Nacht der Tod um sich. Briony fand, daß Schritte, die auf den breiten, gebohnerten Gängen davoneilten, sich dumpf, fast abbittend anhörten, wo sie doch früher hell und emsig geklungen hatten. Die Handwerker, die auf den Treppenabsätzen gleich neben den Fahrstühlen neue Trommeln für die Feuerwehrschläuche anbrachten und zusätzliche Sandeimer zur Feuerbekämpfung bereitstellten, arbeiteten den ganzen Tag ohne Unterbrechung und sprachen kein einziges Wort, nicht einmal mit den Krankenträgern. Von zwanzig Betten waren auf der Station nur acht belegt, und obwohl die Arbeit anstrengender als vorher war, hielt die Lernschwestern eine gewisse Unruhe, eine fast abergläubische Furcht davon ab, sich zu beklagen, wenn sie allein zusammensaßen und ihren Tee tranken. Überhaupt waren sie insgesamt ruhiger, duldsamer. Sie spreizten voreinander nicht mal mehr die Hände, um sich ihre Frostbeulen zu zeigen.
Außerdem litten die Lernschwestern unter der ewigen, allgegenwärtigen Angst, Fehler zu machen.

Weitere Kostenlose Bücher