McEwan Ian
schmutzige Verbände ab. Immer wieder die Entscheidung, behutsam und langsam vorzugehen oder es in einer Schmerzsekunde rasch und mit einem Ruck hinter sich zu bringen. Auf dieser Station wurde letzteres bevorzugt, was einige der Schmerzensschreie erklärte. Und dann ein Wust von Gerüchen – säuerlich klebrig nach frischem Blut, dann nach dreckigen Kleidern, nach Schweiß, Öl, Desinfektionsmitteln, medizinischem Alkohol, und über allem der Gestank von Wundbrand. Bei zwei Fällen mußte im OP amputiert werden.
Da die Vollschwestern vorübergehend an die Notaufnahmen im äußeren Krankenhausbezirk überstellt worden waren und immer neue Fälle hereinkamen, gaben die Krankenpflegerinnen bedenkenlos Befehle, und die Lernschwestern aus Brionys Jahrgang übernahmen zusätzliche Verantwortung. Eine Schwester trug Briony auf, einem
Unteroffizier auf einer Tragbahre an der Tür den Verband abzunehmen und ihm die Beinwunde zu säubern. Sie sollte ihn aber erst wieder verbinden, wenn sich einer der Ärzte die Verletzung angesehen hatte. Der Unteroffizier lag auf dem Bauch und verzog das Gesicht, als sie sich hinkniete und ihm ins Ohr flüsterte, was sie vorhatte.
»Wenn ich schrei, müssen Sie sich nicht drum kümmern«, murmelte er. »Machen Sie die Wunde ruhig sauber. Ich will’s Bein nicht verlieren.«
Die Hose mußte aufgeschnitten werden. Der äußere Verband sah noch ziemlich neu aus. Sie begann ihn abzuwickeln, doch als sie die Hand nicht unter seinem Bein durchführen konnte, schnitt sie die Binde durch.
»Haben mich in Dover am Kai erwischt.«
Längs über der Wunde, die vom Knie bis zum Knöchel reichte, lag jetzt nur noch ein Streifen Mull, dunkel von geronnenem Blut. Das Bein selbst war haarlos und schwarz. Briony befürchtete das Schlimmste und atmete durch den Mund.
»Wie haben die denn das fertiggebracht?« Sie gab ihrer Stimme einen möglichst munteren Ton.
»Eine Granate. Hat mich auf so einen Wellblechzaun geschleudert.«
»Was für ein Pech. So, und der Rest muß auch noch ab.« Behutsam hob sie den Rand an, und der Unteroffizier stöhnte auf.
Er sagte: »Zählen Sie bis drei, und dann machen Sie schnell.« Der Unteroffizier ballte die Hände zu Fäusten. Sie packte das Stück, das sie bereits gelöst hatte, hielt es fest zwischen Daumen und Zeigefinger und riß mit einer plötzlichen Bewegung an dem Mull. Ihr fiel etwas aus Kindertagen ein, eine Erinnerung an jenen Nachmittag, an dem sie auf einer Geburtstagsfeier den berühmten Tischdeckentrick gesehen hatte. Mit einem klebrigen, knirschenden Laut löste sich der Verband in einem einzigen Stück.
Der Unteroffizier sagte: »Mir wird schlecht.« Sie hatte eine Nierenschale griffbereit. Er würgte, aber es kam nichts. Schweißtropfen bildeten sich in seinen Nackenfalten. Die Wunde war gut vierzig Zentimeter lang, vielleicht noch länger, zog sich um das Knie herum und war mit groben, unregelmäßigen Stichen vernäht worden. Hier und da schoben sich die Ränder der aufgeplatzten Haut übereinander, so daß das Fettgewebe und kleine Fleischknöllchen zu sehen waren, die wie winzige Büschel roter Weintrauben von der Wunde nach oben gedrückt wurden.
»Halten Sie still«, sagte Briony. »Ich mache jetzt um die Wunde sauber, rühr sie selbst aber nicht an.« Noch nicht jedenfalls. Das Bein war schwarz und weich wie eine überreife Banane. Briony tunkte den Wattebausch in Alkohol. Sie hatte Angst, die Haut könnte sich einfach ablösen, deshalb strich sie ganz behutsam über den Schenkel, knapp fünf Zentimeter oberhalb der Wunde. Dann wischte sie noch einmal drüber, diesmal jedoch etwas kräftiger. Die Haut war fest, also verstärkte sie den Druck, bis er zusammenzuckte. Da nahm sie die Hand fort und betrachtete den Streifen weißer Haut, den sie freigelegt hatte. Der Wattebausch war schwarz. Kein Wundbrand. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, sie konnte nicht anders. Sogar die Kehle zog sich ihr zusammen.
»Was ist, Schwester?« fragte er. »Sie können es mir ruhig sagen.« Er richtete sich auf und versuchte, über die Schulter zu blicken. In seiner Stimme schwang Angst mit.
Sie schluckte und erwiderte gefaßt: »Ich glaube, die Wunde heilt gut.«
Sie brauchte noch mehr Watte. Der Dreck war Öl oder Schmierfett, vermischt mit Strandsand, und ließ sich nur mühsam entfernen. Sie reinigte ein fünfzehn Zentimeter breites Umfeld um die Wunde.
Nachdem sie sich einige Minuten mit dem Bein beschäftigt hatte, legte sich eine Hand auf ihre
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