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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Gegacker anwuchs. Fiona erwies sich als passable Mimin, doch bei aller Fröhlichkeit schwang in ihrem Humor ein grausamer Unterton mit, der Briony gut gefiel. Fiona konnte Cockney, wie es in Lambeth gesprochen wurde, und nahm mit grausamer Schärfe die Ignoranz einiger Patienten aufs Korn, imitierte ihre flehenden, winselnden Stimmen: »‘s isses Herz, Schwester. War immer schon auffer falschn Seite, ehrlich. Genau wie bei meine Mum. Sagn Se ma, stimmts eigentlich wirklich, dass Babys ausm Popo komm, Schwester? Ich weiß nämlich echt nich, wie das bei mir klappen soll, so wie ich immer verstopft bin. Sechs Görn hab ich gehabt, dann bin ich los und hab eins im Bus vergessn, im Achtundachtziger aus Brixton. Musses Balg einfach sitzn gelassn harn. Habs nie wieder gesehn, Schwester. Hat mich mächtig aufgeregt. Hab mir die Augn ausm Kopp geheult.«
Als sie zurück zum Parliament Square gingen, fühlte sich Briony leicht benommen und vor lauter Lachen noch ganz wacklig auf den Beinen. Sie staunte selbst, wie rasch ihre Stimmung umschlug. Die Sorgen verschwanden zwar nicht, aber sie glitten in den Hintergrund, verloren ihre emotionale Wucht. Arm in Arm spazierten die Mädchen über die Westminster Bridge. Es war Ebbe, und in dem kräftigen Licht lag ein purpurfarbener Schimmer über den Schlammbänken, auf denen Abertausende der von Würmern aufgeschütteten Erdhäufchen winzige scharfe Schatten warfen. Als Briony und Fiona nach rechts in die Lambeth Palace Road einbogen, sahen sie eine lange Reihe Armeelaster vor dem Haupteingang warten, und die Aussicht auf weitere Vorräte, die ausgepackt und fortgeräumt werden mußten, ließ die Mädchen gutmütig aufstöhnen.
Doch dann entdeckten sie Sanitätswagen zwischen den Lastern, und als sie näher kamen, sahen sie Krankentragen, Dutzende, die wild verstreut auf dem Boden abgesetzt worden waren, und überall grüne, verdreckte Kampfanzüge und blutfleckige Verbände. Soldaten standen in Gruppen herum, regungslos und benommen; alle trugen sie wie die Männer auf dem Boden schmutzige Verbände. Ein Hilfspfleger sammelte auf der Ladefläche eines Lasters Gewehre ein. Zahllose Krankenträger, Schwestern und Ärzte bewegten sich durch die Menge. Fünf oder sechs fahrbare Tragen waren zum Eingang gebracht worden – viel zu wenige. Einen Augenblick blieben Briony und Fiona wie erstarrt stehen und schauten zu, dann rannten sie los. Nur einen Augenblick später waren sie bei den Männern. Selbst der frische Frühlingswind konnte den Gestank von Maschinenöl und eiternden Wunden nicht vertreiben. Die Gesichter und Hände der Soldaten waren schwarz, und mit ihren Bartstoppeln, dem verfilzten schwarzen Haar und den umgehängten Schildchen von der Aufnahmestation sahen sie fast identisch aus, eine wilde Menschenrasse aus einer schrecklichen Welt. Soweit die Männer standen, schienen sie zu schlafen. Noch mehr Schwestern und Ärzte strömten nach draußen. Ein Chefarzt übernahm das Kommando und sorgte für ein grobes Auswahlverfahren. Einige der dringendsten Fälle wurden auf die fahrbaren Tragen gehoben. Und zum ersten Mal seit Beginn ihrer Ausbildung wurde Briony von einem Arzt angesprochen, einem Assistenzarzt, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Sie da, packen Sie mit an.«
Der Arzt nahm das eine und sie das andere Ende. Briony hatte nie zuvor eine Trage in Händen gehalten und fand sie überraschend schwer. Sie gingen ins Gebäude, waren aber noch keine zehn Schritte über den Flur gelaufen, als ihr klar wurde, daß sie einfach nicht genügend Kraft im linken Handgelenk hatte. Sie hielt das Fußende. Der Soldat mit den Abzeichen eines Feldwebels hatte keine Stiefel an, seine blau angelaufenen Zehen stanken. Um den Kopf klebte eine schwarzrot verfärbte Binde. Am Schenkel hingen Stoffetzen in eine offene Wunde, in der Briony einen weißen Knochen erkennen zu können meinte. Jeder Schritt bereitete dem Mann Schmerzen. Seine Augen waren fest geschlossen, doch öffnete und schloß er den Mund in stummer Qual. Die Trage würde zur Seite kippen, wenn ihre linke Hand losließ, doch als die Finger nachgaben, hatten sie endlich den Fahrstuhl erreicht und stellten die Trage ab. Langsam fuhren sie nach oben, der Arzt nahm den Puls und sog scharf die Luft durch die Nase ein. Brionys Anwesenheit hatte er offenbar völlig vergessen. Als der zweite Stock in ihren Blick sank, konnte sie nur an den fünfundzwanzig Meter langen Flur bis zur Station denken. War es nicht ihre Pflicht, dem Arzt zu

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