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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Briony drehte sich zu der langen Reihe Soldaten um, die hinter ihr aufgelaufen war, doch keiner blickte sie an. Sie starrten an ihr vorbei in den hohen viktorianischen Flur, auf die stolzen Säulen, die Palmen in den Blumenkübeln und die ordentlich aufgereihten Betten mit den sauberen, aufgeschlagenen Laken.
»Warten Sie hier«, sagte Briony. »Die Schwester wird Ihnen allen ein Bett zuteilen.«
Rasch ging sie zum anderen Flurende, wo sich die Schwester mit zwei Pflegerinnen um einen Patienten kümmerte, als sie schlurfende Schritte hörte. Die Soldaten wankten hinter ihr her. Entsetzt fuchtelte Briony mit den Händen: »Zurück, bitte, gehen Sie zurück und warten Sie.«
Doch sie schwärmten aus und verteilten sich über die Station. Jeder Mann hatte das Bett gesehen, in dem er liegen wollte. Und ohne ihr Bett zugeteilt bekommen zu haben, ohne sich die Stiefel auszuziehen, ohne sich zu baden, ohne entlaust zu werden und ohne Krankenhausschlafanzug legten sie sich in ihre Betten. Ihre verfilzten Haare, die geschwärzten Gesichter senkten sich auf die Kissen. Die Stationsschwester kam im Geschwindschritt von ihrem Flurende herübergeeilt, die hastigen Schritte hallten im altehrwürdigen Gemäuer wider. Briony trat an ein Bett und zupfte am Ärmel eines Soldaten, der mit dem Gesicht nach oben lag und sich den aus der Schlinge gerutschten Arm hielt. Als er die Beine langstreckte, rieb er einen Ölfleck in seine Decke. Alles ihre Schuld.
»Bitte, stehen Sie wieder auf«, sagte sie, als die Stationsschwester neben ihr stand. Und hilflos fügte sie noch hinzu: »Wir haben doch unsere Vorschriften.«
»Die Männer müssen schlafen. Die Vorschriften sind für später.« Eine irische Stimme. Die Schwester legte Briony die Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich um, damit sie ihr Namensschild lesen konnte. »Sie gehen jetzt besser auf Ihre Station zurück, Schwester Tallis. Ich denke, Sie werden da gebraucht.«
Mit einem sanften Schubs schickte sie Briony wieder auf den Weg. Die Station kam auch ohne Vorschriftenfanatiker wie sie zurecht. Die Männer schliefen bereits, und erneut stand sie wie ein Trottel da. Natürlich mußten sie schlafen, aber Briony hatte doch nur tun wollen, was man ihrer Meinung nach von ihr erwartete. Schließlich hatte sie die Vorschriften nicht erfunden. Sie waren ihr in den letzten Monaten eingetrichtert worden, diese abertausend Kleinigkeiten, die bei einer Neuaufnahme beachtet werden mußten. Woher sollte sie wissen, daß sie in Wirklichkeit nichts zu bedeuten hatten? Solch trotzigen Gedanken hing sie nach, bis sie fast ihre eigene Station erreicht hatte, als ihr die Männer mit den Krücken wieder einfielen, die unten darauf warteten, zum Fahrstuhl gebracht zu werden. Aber die Sitzecke war leer, und auf den Fluren war keine Spur von den Männern zu entdecken. Um ihre Unfähigkeit nicht herauszuposaunen, fragte sie lieber nicht bei den Schwestern und Krankenträgern nach. Offenbar hatte sich jemand der Verletzten angenommen. Doch auch in den folgenden Tagen sollte sie keinen von ihnen wiedersehen.
Ihre eigene Station war zu einem NotOP umfunktioniert worden, allerdings hatten solche Bezeichnungen anfangs wenig zu besagen. Ebensogut hätte es sich um einen Truppenverbandsplatz an der Front handeln können. Weitere Krankenschwestern und Pflegerinnen waren herbeordert worden, und fünf oder sechs Ärzte kümmerten sich um die dringendsten Fälle. Außerdem hielten sich zwei Priester auf der Station auf, einer saß neben einem Mann, der auf der Seite lag, ein anderer betete neben einer menschlichen Gestalt unter einer Decke. Sämtliche Pflegerinnen trugen Mundschutzmasken und hatten wie die Ärzte ihre Ärmel aufgekrempelt. Zwischen den Betten hasteten Schwestern umher, gaben Spritzen – vermutlich Morphium – oder legten Katheter, damit die Verwundeten an die Blutbeutel und gelben Plasmaflaschen angehängt werden konnten, die wie exotische Früchte von den hohen, fahrbaren Galgen herabhingen. Praktikanten liefen mit Stapeln von Wärmflaschen über den Flur. Überall war das Geflüster leiser Stimmen zu hören, Ärztestimmen, die regelmäßig von lautem Stöhnen und Schmerzensschreien unterbrochen wurden. Jedes Bett war belegt; Neuzugänge blieben auf den Tragen liegen und wurden zwischen die Betten geschoben, um möglichst viele Kranke an die Fusionsständer anhängen zu können. Zwei Hilfspfleger machten sich daran, die Toten fortzubringen. An vielen Betten saßen Krankenschwestern und nahmen

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