McEwan Ian
übriggeblieben war, und dabei darauf geachtet, daß er nicht sabberte, um ihm wenigstens diese Peinlichkeit zu ersparen. Er hatte ihre Hand fortgestoßen. Jedes Schlucken tat mörderisch weh. Das halbe Gesicht war ihm fortgeschossen worden. Doch mehr als das Abwickeln der Verbände fürchtete sie den vorwurfsvollen Blick in seinen großen, braunen Augen. Was habt ihr mir angetan? Seine einzige Form der Mitteilung war ein leiser Aaah-Laut, der aus der Kehle aufstieg, ein kleiner Seufzer der Enttäuschung. »Wir kriegen Sie schon hin«, hatte sie immerzu wiederholt und an nichts anderes denken können.
Als sie sich nun mit dem Verbandszeug seinem Bett näherte, rief sie fröhlich: »Guten Tag, Schütze Latimer, ich bin’s noch mal.« Er schaute sie an, schien sie aber nicht wiederzuerkennen. Während sie die Klammern löste, mit denen der Verband oben an seinem Kopf befestigt war, sagte sie: »Es wird schon werden. Warten Sie es ab, in ein, zwei Wochen spazieren Sie aus dem Krankenhaus. Und das können wir längst nicht über jeden hier sagen.«
Das war ein Trost. Immer gab es jemanden, dem es noch schlechter ging. Vor einer halben Stunde erst mußte ein Hauptmann der East Surreys - von jenem Regiment also, zu dem sich die Jungs aus dem Dorf gemeldet hatten -mehrfach amputiert werden. Und dann waren da auch noch die Männer, die im Sterben lagen.
Mit einer Chirurgenzange entfernte sie behutsam die vollgesogenen Mullstreifen aus dem Loch in seinem Gesicht. Doch nachdem sie den letzten herausgeholt hatte, ließ sich nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der Anatomiepuppe feststellen, die sie im Unterricht benutzt hatten. Das hier waren bloß noch Trümmer, wunde, scharlachrote Fetzen. Durch die fehlende Wange konnte sie die oberen und unteren Backenzähne sowie die glitzernde, scheußlich lange Zunge erkennen. Weiter oben, dort, wohin sie kaum zu blicken wagte, lagen rund um die Augenhöhle die Muskeln offen. Ein intimer Anblick, den niemand je so hatte sehen sollen. Schütze Latimer war ein Monster geworden, und bestimmt spürte er das auch. Ob ihn mal ein Mädchen geliebt hatte? Ob es ihn auch jetzt noch lieben konnte? »Wir kriegen das schon wieder hin«, log sie erneut.
Sie fing an, sein Gesicht mit sauberer, lysolgetränkter Gaze abzudecken. Als sie die Verbandklammern festmachte, gab er seinen traurigen Laut von sich.
»Soll ich Ihnen die Bettente bringen?«
Er schüttelte den Kopf und machte wieder dies Geräusch. »Drückt es irgendwo?«
Nein.
»Möchten Sie Wasser?«
Ein Kopfnicken. Nur ein kleiner Rest seiner Lippen war ihm geblieben. Sie schob die Tülle der kleinen Kanne in die Mundöffnung und gab ihm etwas Wasser. Bei jedem Schluck zuckte er zusammen, was ihm wegen der fehlenden Gesichtsmuskeln wiederum entsetzliche Qualen bereitete. Er hielt es einfach nicht mehr aus, doch als sie die Kanne fortnehmen wollte, berührte er ihr Handgelenk. Er mußte mehr haben. Lieber Schmerz als Durst. Und so ging es minutenlang weiter – er konnte die Schmerzen nicht ertragen, doch er mußte Wasser haben.
Sie wäre bei ihm geblieben, hätten nicht stets neue Aufgaben auf sie gewartet, Krankenpflegerinnen um ihre Hilfe gebeten oder Soldaten sie an ihr Bett gerufen. Sie gönnte sich eine kurze Pause, als ein Mann, der aus der Narkose aufwachte, sich auf ihren Schoß erbrach und sie eine frische Schürze holen mußte. Bei einem Blick aus dem Flurfenster stellte sie überrascht fest, daß es draußen bereits dunkel wurde. Fünf Stunden waren seit der Rückkehr aus dem Park vergangen. Sie stand gerade vor dem Wäscheschrank und band sich eine Schürze um, als Stationsschwester Drummond hereinkam. Schwer zu sagen, was sich verändert hatte – sie war weiterhin auf stille Weise distanziert, ihr Ton bestimmt, doch meinte Briony unter aller Selbstdisziplin einen Hauch von persönlicher Verbundenheit in der allgemeinen Not zu spüren.
»Schwester, als nächstes helfen Sie, Bunyanbeutel an Unteroffizier Maclntyres Armen und Beinen anzulegen. Der übrige Körper wird mit Borsäure eingerieben. Sollte es Schwierigkeiten geben, kommen Sie unverzüglich zu mir.«
Sie drehte sich um, und eine weitere Lernschwester erhielt ihre Anweisungen. Briony hatte den Unteroffizier bei der Einlieferung gesehen. Er gehörte zu den Männern, die vor Dünkirchen auf einer sinkenden Fähre mit brennendem Öl überschüttet und von einem Zerstörer aus dem Wasser gefischt worden waren. Das zähflüssige Öl klebte auf seiner Haut und fraß sich durch
Weitere Kostenlose Bücher