McEwan Ian
sagen, daß sie es nicht schaffte? Doch als er die Fahrstuhltür aufriß und ihr befahl, die Trage anzuheben, kehrte er ihr den Rücken zu. Alle Kraft in den linken Arm lenkend, flehte sie den Arzt lautlos an, doch schneller zu gehen. Wenn sie jetzt versagte, würde sie sich diese Schande nie verzeihen. Der Mann öffnete und schloß den Mund in seinem schwarzen Gesicht, als kaute er auf etwas herum. Seine Zunge war mit weißen Pickeln übersät. Der schwarze Adamsapfel hüpfte auf und ab, und sie zwang sich, ihren Blick darauf zu konzentrieren. Dann waren sie auf der Station. Briony hatte Glück, denn gleich hinter der Tür stand ein Notbett. Schon glitt ihr die Trage aus den Fingern. Eine Oberschwester und eine erfahrene Pflegerin erwarteten sie. Kaum war die Trage neben dem Bett ausgerichtet, gaben Brionys gefühllos gewordene Finger nach, und sie konnte nur noch das linke Knie hochziehen, um das Gewicht abzufangen. Der Holm krachte auf ihr Bein. Die Trage wackelte, doch die Oberschwester griff zu und hielt fest. Den Lippen des verwundeten Feldwebels entwich ein fassungslos klingender Laut, als hätte er bislang gar nicht geahnt, wie ungeheuerlich der Schmerz sein konnte.
»Paß doch auf, Mädchen«, brummte der Arzt. Sie hievten den Patienten vorsichtig ins Bett.
Briony wartete ab, ob sie noch gebraucht wurde, doch die drei waren eifrig beschäftigt und hatten sie völlig vergessen. Die Pflegerin löste den Kopfverband, die Oberschwester schnitt die Hose auf. Der Assistenzarzt drehte sich zum Licht um, damit er lesen konnte, was auf dem Laufzettel stand, der auf dem Hemd des Mannes gelegen hatte. Briony räusperte sich leise, und die Oberschwester blickte herüber und stellte verärgert fest, daß sie immer noch auf der Station war.
»Stehen Sie hier nicht einfach rum, Schwester Tallis. Ab nach unten, da wird Ihre Hilfe gebraucht.«
Sie fühlte sich gedemütigt, und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. In dem Augenblick, in dem der Krieg in ihr Leben drang, in dem allerersten Augenblick, in dem sie unter Druck geriet, hatte sie versagt. Sollte man sie auffordern, noch eine Trage zu nehmen, würde sie nicht mal die halbe Strecke bis zum Fahrstuhl schaffen, doch würde sie es nicht wagen, sich zu widersetzen, wenn man ihr diese Aufgabe zuwies. Und falls sie ihr Ende tatsächlich fallen ließ, würde sie einfach aufs Zimmer gehen, ihre Sachen packen und nach Schottland fahren, um als Magd auf einem Bauernhof zu arbeiten. Das dürfte dann wohl für alle das Beste sein. Als sie im Parterre über den Flur eilte, kam ihr Fiona entgegen, die das vordere Ende einer Trage hielt. Sie war stärker als Briony. Das Gesicht des Verletzten war vollständig verbunden, nur über dem Mund war ein dunkles, ovales Loch geblieben. Die Blicke der Mädchen trafen sich und lösten irgendwas aus, einen Schock, vielleicht aber auch Scham darüber, daß sie im Park gelacht hatten, obwohl es so etwas wie dies hier gab.
Briony ging nach draußen und sah mit Erleichterung, daß die letzten Tragen auf Fahrgestelle gehoben wurden und daß Krankenträger darauf warteten, sie ins Haus zu schieben. Etwa ein Dutzend ausgebildeter Schwestern stand neben einigen Koffern. Briony kannte ein paar der Frauen
von ihrer Station, hatte aber keine Zeit, sie zu fragen, wohin sie geschickt wurden. Woanders passierte offenbar noch Schlimmeres. Das Wichtigste waren jetzt die Verwundeten, die ohne fremde Hilfe gehen konnten, und von denen gab es noch über zweihundert. Eine Schwester trug Briony auf, fünfzehn Männer auf die Station Beatrice zu bringen. Wie Schulkinder folgten sie ihr im Gänsemarsch über den Flur. Manche trugen den Arm in einer Schlinge, andere hatten Kopfverletzungen oder Brustwunden. Drei Männer gingen auf Krücken. Keiner sagte ein Wort. Vor den Fahrstühlen kam es zu einem Stau, da fahrbare Tragen darauf warteten, zu den Operationssälen in den Keller gebracht zu werden, und andere noch nach oben zu den Stationen gefahren werden mußten. Für die Männer mit Krücken fand sie eine stille Ecke, sagte ihnen, sie sollten sich setzen und sich nicht von der Stelle rühren, und führte die übrigen Verletzten die Treppe hinauf. Sie kamen nur langsam voran und ruhten sich auf jedem Treppenabsatz aus.
»Ist nicht mehr weit«, sagte sie immer wieder, doch niemand schien sie wahrzunehmen.
Auf der Station angekommen, mußte sie sich als erstes den Vorschriften nach bei der Stationsschwester melden, aber die war nicht in ihrem Büro.
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