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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Schulter, und eine weibliche Stimme sagte ihr ins Ohr: »Sie machen das prima, Schwester Tallis, aber Sie müssen schneller arbeiten.«
Kniend über die an ein Bett gerückte Trage gebeugt, war es nicht leicht, sich umzudrehen. Als sie es schließlich geschafft hatte, sah sie nur noch eine vertraute Gestalt davoneilen. Der Unteroffizier schlief, als Briony sich daranmachte, die Nähte selbst zu säubern. Er zuckte, fuhr manchmal zusammen, wachte aber nicht auf. Die Erschöpfung war sein Betäubungsmittel. Endlich konnte sie sich wieder aufrichten, doch kaum hatte sie die Schale sowie die dreckigen Wattebäusche eingesammelt, kam ein Arzt, und sie war entlassen.
Sie schrubbte sich die Hände und bekam eine neue Arbeit zugewiesen. Jetzt, da sie eine kleine Aufgabe erfolgreich bewältigt hatte, war alles anders. Man trug ihr auf, jenen Soldaten, die vom Kampf erschöpft zusammengebrochen waren, Wasser zu bringen. Es war wichtig, daß sie genügend Flüssigkeit zu sich nahmen. »So ist es gut, Schütze Carter. Trinken Sie, und dann können Sie gleich weiterschlafen. Setzen Sie sich ein bißchen auf…« Sie hielt eine kleine, weiße Emaillekanne in der Hand und ließ die Männer aus der Tülle Wasser saugen, während sie wie Riesenbabys die verdreckten Köpfe an ihre Schürze lehnten. Dann schrubbte sie sich wieder die Hände und sammelte Bettpfannen ein. Noch nie hatte es ihr so wenig ausgemacht. Ihr wurde gesagt, daß sie sich um einen Soldaten mit einer Bauchwunde kümmern sollte, der auch noch einen Teil seiner Nase verloren hatte. Sie konnte an dem blutigen Knorpel vorbei in seinen Mund und auf die verletzte Zunge schauen. Ihre Aufgabe war es, sein Gesicht zu säubern. Wieder war es ölverschmiert und voller Sand, der in die Haut gerieben schien. Sie nahm an, daß er wach war, doch hielt er die Augen geschlossen. Morphium beruhigte ihn, und er wiegte sich sanft hin und her wie im Takt einer Musik, die nur er allein hören konnte. Als seine Gesichtszüge schließlich unter der schwarzen Maske auftauchten, mußte sie an jene Bücher mit den schimmernden leeren Seiten denken, über die sie als Kind mit einem stumpfen Bleistift gerubbelt hatte, um ein Bild zum Vorschein zu bringen. Sie malte sich aus, daß einer dieser Männer Robbie wäre, daß sie seine Wunde verbände, ohne zu wissen, wer er war, sein Gesicht sanft mit Wattebäuschen abriebe, bis die vertrauten Züge erschienen, und daß er sich ihr dankbar zuwenden würde, sobald er sie erkannt hatte, daß er ihre Hand nehmen, sie stumm drücken und ihr vergeben würde. Und dann würde er zulassen, daß sie ihn wieder schlafen legte.
Sie bekam immer verantwortungsvollere Aufgaben. Mit Pinzette und Nierenschale schickte man sie auf eine angrenzende Station an das Bett eines Soldaten der Royal Air Force mit Schrapnellsplittern im Bein. Er beobachtete sie mißtrauisch, als sie ihre Utensilien abstellte.
»Wenn Sie mir die schon rausnehmen wollen, dann möchte ich lieber richtig operiert werden.«
Ihre Hände zitterten. Doch sie war überrascht, wie leicht er ihr fiel, dieser forsche Jetzt-wird-nicht-lange-gefackelt-Ton der Krankenschwestern. Sie zog einen Schirm um sein Bett. »Nun haben Sie sich nicht so. Die sind im Handumdrehen draußen. Wie ist es passiert?«
Während er ihr erklärte, daß es seine Aufgabe gewesen sei, auf den Feldern Nordfrankreichs Landebahnen anzulegen, wanderten seine Augen immer wieder zu der stählernen Pinzette, die sie aus dem Sterilisator geholt hatte. Tropfnaß lag sie in der blauumrandeten Nierenschale.
»Wir haben uns an die Arbeit gemacht, dann kam der Jerry und hat seine Ladung abgeworfen. Wir haben uns zurückgezogen, auf einem anderen Feld von vorn angefangen, der Jerry kam wieder, und wir haben uns noch weiter zurückgezogen. Bis wir dann irgendwann ins Meer gefallen sind.«
Sie lächelte und schlug die Bettdecke zurück. »Dann wollen wir uns das mal ansehen, ja?«
Unterhalb des Schenkels, dort, wo die Schrapnellsplitter saßen, waren Öl und Schmutz bereits abgewaschen worden. Er beugte sich vor und beobachtete sie ängstlich.
»Legen Sie sich hin, damit ich sehen kann, womit wir es hier zu tun haben«, sagte Briony.
»Eigentlich stören sie mich überhaupt nicht.«
»Legen Sie sich bitte wieder hin.«
Auf einer Fläche von etwa dreißig Zentimetern saßen mehrere Splitter im Fleisch. Rund um die Eintrittslöcher war das Bein geschwollen und die Haut leicht entzündet.
»Die machen mir wirklich nichts aus, Schwester. Von mir aus

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