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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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sie hindurch. Es waren kaum mehr als die verkohlten Überreste eines Menschen, was sie ins Bett gelegt hatten. Der Mann konnte es gar nicht schaffen, dachte Briony. Es war schon schwierig genug gewesen, auch nur eine Vene zu finden, um ihm Morphium zu spritzen. Irgendwann in den letzten zwei Stunden hatte Briony bereits zwei Pflegerinnen geholfen, ihn auf die Bettpfanne zu heben, und er hatte geschrien, sobald sie nur Hand an ihn legten.
Die Bunyanbeutel waren große Zellophantüten, in denen das verletzte Körperteil schwamm, umhüllt von einer Salzlösung, die exakt die richtige Temperatur haben mußte. Selbst eine Abweichung von nur einem Grad wurde nicht toleriert. Als Briony ans Bett trat, wärmte eine Lernschwester bereits mit Hilfe eines Primuskochers auf einer Fahrbahre die frische Lösung an. Die Beutel mußten ziemlich oft gewechselt werden. Unteroffizier Maclntyre lag rücklings unter einem Bettbogen, weil er es nicht ertrug, daß seine Haut mit Wäsche in Berührung kam. Er jammerte erbärmlich und verlangte nach Wasser. Verletzte mit Verbrennungen litten immer unter Feuchtigkeitsentzug, doch die Lippen des Unteroffiziers waren wund und geschwollen, die Zunge mit Blasen übersät, weshalb man ihm nichts zu trinken geben konnte. Und der Katheter hatte in der kaputten Vene nicht gehalten, weshalb er auch nicht mehr am Tropf mit der Salzlösung hing. Eine Krankenpflegerin, die Briony noch nie zuvor gesehen hatte, hängte einen neuen Beutel an, während Briony in einer Schüssel die Borsäure vorbereitete und sich einen Wulst Watte nahm. Sie wollte mit den Beinen beginnen, um der Pflegerin nicht im Weg zu stehen, die seinen schwarzen Arm nach einer brauchbaren Vene absuchte.
»Wer hat Sie denn hergeschickt?« fragte die Pflegerin. »Stationsschwester Drummond.«
Die Pflegerin war kurz angebunden und blickte nicht einen Moment von ihrer Suche auf. »Er hat zu starke Schmerzen. Ich will nicht, daß er behandelt wird, ehe er nicht genügend Flüssigkeit im Körper hat. Suchen Sie sich irgendeine andere Arbeit.« Briony tat wie geheißen. Sie wußte nicht, wie viele Stunden später – vermutlich erst nach Mitternacht – sie losgeschickt wurde, um frische Handtücher zu holen. An der Tür zur Wäschekammer stand die Krankenpflegerin und weinte unauffällig vor sich hin. Unteroffizier Maclntyre war tot. In seinem Bett lag bereits ein anderer Patient.
Die Lernschwestern und die Krankenschwestern im zweiten Lehrjahr arbeiteten zwölf Stunden ohne Pause. Die Assistenzärzte und ausgebildeten Schwestern arbeiteten auch danach noch weiter, und niemand schien zu wissen, wie lang sie schon auf der Station waren. Später begriff Briony, daß ihre Ausbildung eine durchaus nützliche Vorbereitung gewesen war, vor allem in Sachen Gehorsam, doch was sie über Krankenpflege wußte, das hatte sie in jener Nacht gelernt. Nie zuvor hatte sie einen Mann weinen sehen. Anfangs war sie schockiert, doch nach einer Stunde hatte sie sich daran gewöhnt. Dann wiederum erstaunte sie der Gleichmut mancher Soldaten, er widerte sie sogar an. Wenn die Männer etwa nach einer Amputation zu sich kamen und meinten, gräßliche Witze reißen zu müssen. Womit soll ich denn jetzt meiner Madame einen Tritt in den Hintern verpassen? Der Körper gab all seine Geheimnisse preis – Knochen ragten aus dem Fleisch, Gedärm oder Sehnerv boten sich frevlerisehen Blicken dar. Aus dieser neuen, intimen Perspektive lernte sie eine einfache, offenkundige Tatsache, die ihr immer schon bewußt gewesen war und die jeder kannte: Der Mensch ist nicht zuletzt auch ein materielles Ding, leicht zu zerstören und gar nicht so leicht wieder zu heilen. Näher als in dieser Nacht sollte sie einem Schlachtfeld niemals kommen, hatte doch jeder Patient, um den sie sich kümmerte, einige wesentliche Bestandteile mitgebracht – Blut, Öl, Sand, Dreck, Meerwasser, Kugeln, Schrapnellsplitter, Motorfett, Korditgeruch oder den klammen, verschwitzten Kampfanzug, dessen Taschen außer verschimmelten Essensresten auch einige klebrige Krümel irgendwelcher Amo-Riegel enthielten. Oft, wenn sie wieder einmal an das Waschbecken mit den mächtigen Hähnen und dem Stück Sodaseife zurückkehrte, mußte sie sich Sandkörner vom Strand von den Händen waschen. Sie und die übrigen Lernschwestern ihrer Gruppe nahmen sich gegenseitig nur noch als Krankenhauspersonal und nicht mehr als Freundinnen wahr: Briony hatte nicht mal recht registriert, daß eines der Mädchen, die geholfen hatten,

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