McEwan Ian
einen Brief auf dem Boden fand. Die Handschrift auf dem Umschlag war ihr fremd. Offenbar hatte eines der Mädchen den Brief aus der Pförtnerloge mitgebracht und unter ihrer Tür durchgeschoben. Statt ihn gleich zu öffnen, zog sie sich aus und machte sich zum Schlafen zurecht. Im Nachthemd setzte sie sich dann mit dem Brief im Schoß auf den Bettrand und dachte an den Jungen. Das Stückchen Himmel in ihrem Fenster wurde schon hell. Sie konnte seine Stimme noch hören, die Art, wie er Tallis sagte, wie er ihren Nachnamen zu einem Vornamen machte. Und sie stellte sich die unerreichbare Zukunft vor - die Boulangerie in der engen, schattigen Gasse, durch die magere Katzen streunten, Klaviermusik aus einem Fenster im ersten Stock, die kichernden Schwägerinnen, die sich über ihren Akzent lustig machten, und Luc Cornet, der sie auf seine rührende Art so sehr liebte. Sie hätte gern um ihn geweint und um seine Familie in Millau, die sicher auf Neuigkeiten von ihm wartete. Doch sie empfand überhaupt nichts. Sie war leer. Fast eine halbe Stunde blieb sie reglos sitzen, beinahe wie betäubt, dann band sie sich erschöpft, aber immer noch nicht müde, das Haar mit jenem Band zusammen, das sie immer dafür benutzte, legte sich ins Bett und öffnete den Brief.
Sehr geehrte Miss Tallis,
herzlichen Dank für die Übersendung von Zwei Gestalten am Brunnen , und bitte entschuldigen Sie unsere verspätete Antwort. Wie Sie sicherlich wissen, wäre es ungewöhnlich für uns, die vollständige Novelle einer unbekannten Autorin - oder übrigens auch einer etablierten Autorin - zu veröffentlichen. Dennoch haben wir uns den Text auf einen möglichen Auszug hin angesehen. Leider kommt er für uns nicht in Frage. Ich schicke Ihnen daher das Manuskript mit gesonderter Post zurück.
Nachdem dies gesagt ist, müssen wir jedoch gestehen, den ganzen Text (anfänglich gegen unser besseres “Wissen,da es in diesem Büro allerhand zu tun gibt) mit großem Interesse gelesen zu haben. Wir können Ihnen zwar nicht anbieten, einen Auszug daraus zu veröffentlichen, doch dachten wir uns, Sie sollten wissen, daß es in unserem Haus den einen oder anderen gibt - zu denen auch ich mich zähle -, die mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen würden, was Sie künftig schreiben mögen. Hinsichtlich des Durchschnittsalters unserer Mitarbeiter sind wir keineswegs sonderlich glücklich und daher lebhaft daran interessiert, das Werk junger, vielversprechender Autoren zu veröffentlichen. Was immer Sie auch zu Papier bringen, wir würden es uns gern ansehen, insbesondere, wenn Sie uns ein oder zwei Kurzgeschichten schreiben wollten. Wir fanden Zwei Gestalten am Brunnen jedenfalls so ansprechend, daß wir es mit entschiedener Aufmerksamkeit gelesen haben. Und ich schreibe dies keineswegs nur so dahin, da wir Unmengen von Texten ablehnen, darunter durchaus auch die Arbeiten von bekannten Autoren. Es gibt da einige ganz passable Metaphern - besonders gefiel mir »das lange Gras, dem bereits das löwenmähnige Gelb des Hochsommers auflauerte« -, und es gelingt Ihnen zweierlei: einen Gedankenstrom in Worten festzuhalten und ihn so zu nuancieren, daß unterschiedliche Charaktere erkennbar werden. Etwas Einzigartiges, Unausgesprochenes wird so eingefangen. Doch fragen wir uns, ob dies nicht allzusehr den Techniken von Mrs. Woolf zu verdanken ist. Der kristalline Augenblick der Gegenwart ist als solcher natürlich ein dankbares Thema, vor allem für die Lyrik, erlaubt er dem Schreibenden doch, sein Talent zu beweisen, in die Geheimnisse der Wahrnehmung einzutauchen, eine stilisierte Version der Denkprozesse darzubieten, das Unbestimmte sowie die Unwägbarkeiten des inneren Seelenlebens zu erforschen und so weiter. Wer wollte den Wert derartigen Experimentierens bezweifeln? Doch kann ein solcher Text ins Preziose umschlagen, wenn es keinerlei Entwicklung gibt. Anders ausgedrückt, unsere Aufmerksamkeit wäre noch nachhaltiger gewonnen worden, wenn der Erzählung etwas Handlung zugrunde gelegen hätte. Entwicklung tut not.
So ist zum Beispiel die Kleine am Fenster, deren Bericht wir zuerst lesen, und ihr fundamentales Unvermögen, die Situation zu begreifen, auf das schönste eingefangen. Gleiches gilt für ihren nachfolgend gefaßten Vorsatz wie auch für ihr Empfinden, nun in die Geheimnisse der Erwachsenen einzudringen. Wir erleben das Mädchen in der Morgenröte seiner Individualität. Man ist fasziniert von seinem Entschluß, die zuvor verfaßten Märchen,
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