McEwan Ian
unsere Nähe führen, würden wir uns mehr als glücklich schätzen, das Geschriebene bei einem Glas Wein mit Ihnen vertiefen zu können. Wir hoffen, daß wir Sie nicht entmutigt haben. Vielleicht tröstet es Sie, zu erfahren, daß unsere ablehnenden Bescheide gewöhnlich kaum drei Zeilen lang sind. Entschuldigen Sie bitte, nebenbei bemerkt, daß wir kein Wort über den Krieg verloren haben. Wir schicken Ihnen unsere neueste Ausgabe mit einer entsprechenden Vorbemerkung des Herausgebers. Wie Sie daraus ersehen, sind wir nicht der Ansicht, daß Künstler verpflichtet sind, in einem Krieg Stellung zu beziehen. Sie tun sogar weise und recht daran, ihn zu ignorieren und sich anderen Themen zu widmen. Da Künstler politisch machtlos sind, müssen sie diese Zeit nutzen, um sich in tieferen, emotionalen Schichten zu entwickeln. Ihr Beitrag, ihr Kriegsbeitrag, besteht darin, ihr Talent zu kultivieren und ihm dahin zu folgen, wohin es sie führt. Der Krieg ist, wie wir einmal bemerkten, der Feind aller kreativen Tätigkeit.
Ihre Anschrift läßt vermuten, daß Sie entweder Ärztin sind oder an einer langwierigen Krankheit leiden. Sollte letzteres der Fall sein, wünschen wir Ihnen alle eine rasche und vollständige Genesung. Zum Schluß will ich nur noch anfügen, daß sich jemand von uns hier fragt, ob Sie eine ältere Schwester haben, die vor sechs, sieben Jahren aufs Girton College gegangen ist.
Mit herzlichen Grüßen
CC
D ie Rückkehr zu striktem Schichtdienst vertrieb in den folgenden Tagen jenes Gefühl diffuser Zeitlosigkeit, das sie in den ersten vierundzwanzig Stunden empfunden hatte. Briony war froh, tagsüber zu arbeiten, von sieben Uhr morgens bis abends um acht. Für die Mahlzeiten blieb ihr jeweils eine halbe Stunde. Wenn der Wecker um Viertel vor sechs klingelte, glitt sie aus einem zähen Abgrund der Erschöpfung nach oben, und während jener Sekunden im Niemandsland, irgendwo zwischen Schlaf und vollem Bewußtsein, fiel ihr ein, daß sie etwas Aufregendes erwartete, ein besonderer Hochgenuß oder auch eine tiefgreifende Veränderung. Als Kind am Weihnachtstag war es ähnlich gewesen – ein schläfriger Jubel, noch ehe einem der Grund dafür einfiel. Sie hielt die Augen vor dem hellen Sommermorgen geschlossen, tastete nach dem Weckerknopf, sank in die Kissen zurück, und dann wußte sie es wieder. Ganz das Gegenteil von Weihnachten. Das Gegenteil von allem. Die Deutschen würden einmarschieren. Jeder behauptete das, von den Krankenträgern, die ihre krankenhauseigene Wehrgruppe gebildet hatten, bis hin zu Churchill persönlich, der das Bild eines unterjochten, hungernden Landes heraufbeschwor, in dem sich allein die Royal Navy noch frei bewegen konnte. Briony wußte, daß Entsetzliches bevorstand, daß es in den Straßen zu Nahkampf und öffentlichen Hinrichtungen kommen würde, daß Sklaverei und der Niedergang alles Anständigen drohten. Doch wie sie auf dem Rand ihres zerwühlten, immer noch warmen Bettes saß und ihre Strümpfe anzog, konnte sie ein grauenerregendes Gefühl freudiger Erwartung weder leugnen noch verdrängen. Das Land war jetzt ganz allein auf sich gestellt, jeder sagte das, und so war es wohl auch am besten. Und schon wirkten die Dinge irgendwie verändert – das Schwertlilienmuster auf ihrem Kulturbeutel, der gesprungene Gipsrahmen um den Spiegel, ihr Gesicht darin, wenn sie sich das Haar kämmte, alles sah heller aus, schärfer umrissen. Der Türknauf in ihrer Hand fühlte sich zudringlich kühl und fest an. Und als sie auf den Flur trat und ferne, schwere Tritte auf der Treppe hörte, krampfte sich bei dem Gedanken an deutsche Armeestiefel ihr Magen zusammen. Vor dem Frühstück hatte sie auf dem Treidelpfad am Fluß ein, zwei Minuten für sich. Selbst um diese Stunde lag unter klarem Himmel ein grimmiges Glitzern auf den frischen Flutwellen, die am Krankenhaus vorübereilten. War es wirklich möglich, daß den Deutschen die Themse gehören sollte?
Die ungewohnte Klarheit all dessen, was sie sah, berührte oder hörte, verdankte sich gewiß nicht den frischen Anfängen, dem Überreichtum des frühen Sommers, sondern einem brennenden Wissen um den nahenden Abschluß, darum, daß die Ereignisse einem Ende zustrebten. Sie spürte, daß dies die letzten Tage waren, Tage, die auf besondere Weise in der Erinnerung aufscheinen würden. Diese Helligkeit, diese lange Reihe sonniger Tage waren ein letzter Wurf der Geschichte, ehe eine neue Zeitspanne begann. Die frühmorgendlichen Aufgaben
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