McEwan Ian
bald wieder nach Hause.«
»Es heißt, die Menschen hier seien abweisend und unfreundlich, aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sind wirklich sehr lieb zu mir. Und daß du mich noch mal besuchst, das ist auch sehr freundlich.«
Eine Zeitlang nahm sie an, daß er eingeschlafen war, und da sie sich seit Stunden zum ersten Mal ausruhte, spürte sie, wie ihr vor Müdigkeit die Augen zufallen wollten.
Dann blickte er sich mit derselben langsamen Kopfbewegung wieder um, schaute sie schließlich an und sagte:
»Natürlich, du bist das Mädchen mit dem englischen Akzent.« Sie erwiderte: »Erzählen Sie mir, was Sie vor dem Krieg getan haben. Wo haben Sie gewohnt? Können Sie sich daran erinnern?«
»Weißt du noch, wie du Ostern nach Millau gekommen bist?« Kraftlos schwenkte er ihre Hand hin und her, als wollte er ihre Erinnerung aufrühren, und die dunklen grünen Augen musterten fragend ihr Gesicht.
Sie fand es nicht richtig, ihm etwas vorzumachen. »Ich bin nie in Millau gewesen…«
»Weißt du noch, wie du zum ersten Mal in unser Geschäft gekommen bist?«
Sie rückte ihren Stuhl näher ans Bett. Sein blasses, ölig schimmerndes Gesicht tanzte vor ihren Augen auf und ab. »Luc, ich möchte, daß Sie mir zuhören.«
»Ich glaub, meine Mutter hat dich bedient. Vielleicht war es auch eine von meinen Schwestern. Ich habe jedenfalls hinten mit meinem Vater am Ofen gestanden, als ich deinen Akzent hörte. Und dann bin ich nach vorn, um dich anzusehen…« »Ich möchte Ihnen sagen, wo Sie sind. Sie sind nicht in Paris…«
»Am nächsten Tag bist du wiedergekommen, und diesmal war ich da, und du hast gesagt…«
»Bald können Sie schlafen. Ich sehe morgen noch mal nach Ihnen, versprochen.«
Luc hob eine Hand an den Kopf und runzelte die Stirn. Mit etwas leiserer Stimme bat er: »Tallis, ich möchte, daß du mir einen Gefallen tust.«
»Natürlich.«
»Der Verband ist so eng. Könntest du den etwas lockerer machen?«
Sie stand auf und schaute auf seinen Kopf hinunter. Die Binden waren in einer Schleife zusammengeknotet, um sie rasch wieder lösen zu können. Behutsam zog sie an den Enden, während er erzählte: »Anne, meine jüngste Schwester, kannst du dich an sie erinnern? Sie ist das hübscheste Mädchen aus ganz Millau. Ihr Examen hat sie übrigens mit Debussy bestanden, mit einem kleinen, ganz hellen, heiteren Stück. So hat Anne es jedenfalls beschrieben. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Vielleicht kennst du es ja.«
Er summte einige Takte, während sie die einzelnen Lagen abwickelte.
»Keiner weiß, woher sie ihr Talent hat. Die übrige Familie ist in Sachen Musik einfach hoffnungslos. Und wenn sie spielt, hält sie sich so gerade und lächelt nie, bis das Stück zu Ende ist. Ja, das fühlt sich schon besser an. Ich glaub, es war Anne, die dich bedient hat, als du zum ersten Mal in unser Geschäft gekommen bist.«
Sie hatte nicht vorgehabt, die Mullbinden ganz abzunehmen, aber als sie den Verband lockerte, geriet das darunterliegende sterile Wundtuch ins Rutschen und mit ihm ein Teil der blutgetränkten Gaze. Luc fehlte der halbe Schädelknochen. Rund um das mehrere Zentimeter breite, von der Kopfdecke bis fast zum Ohr reichende Loch waren die Haare abrasiert, und unter dem gezackten Knochenrand lag die schwammartige, blutrote Hirnmasse. Sie fing das Tuch auf, ehe es zu Boden fallen konnte, und wartete einen Augenblick, bis der Anfall von Übelkeit vorüber war. Erst jetzt begriff sie, wie dumm und unverantwortlich das war, was sie gerade getan hatte. Luc saß still da und wartete darauf, daß sie weitermachte. Sie blickte über den Flur. Niemand schien sie zu beachten, also legte sie das sterile Tuch auf die Wunde zurück, wickelte die Binde um und knüpfte schließlich eine neue Schleife. Dann setzte sie sich, griff nach seiner feuchten Hand und versuchte, sich wieder zu beruhigen.
Luc brabbelte erneut vor sich hin. »Ich rauche nicht. Meine Ration hab ich Jeannot versprochen… Paß auf, das spritzt ja über den ganzen Tisch… jetzt unter den Blumen… das Kaninchen kann dich doch nicht hören, Dummerchen…« Und dann sprudelten die Worte nur so aus ihm hervor, so daß sie den Faden endgültig verlor. Später fing sie noch eine Bemerkung über einen Lehrer auf, der offenbar zu streng gewesen war, vielleicht handelte es sich auch um einen Offizier. Dann verstummte er. Sie wischte ihm mit einem feuchten Lappen das verschwitzte Gesicht ab und wartete. Als er die Augen aufschlug, nahm er ihr Gespräch wieder auf,
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